Pater Mertes über die Wahrnehmung der russischen Orthodoxie

Hinhören für die Einheit der Christen

Veröffentlicht am 06.09.2016 um 00:01 Uhr – Von Pater Klaus Mertes – Lesedauer: 
Standpunkt

Bonn ‐ Pater Mertes über die Wahrnehmung der russischen Orthodoxie

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In einigen Tagen jährt sich der 9. September 1990, an dem der russische Priester Alexander Men frühmorgens beim Gang zum Gottesdienst überfallen und mit einem Beil erschlagen wurde. Er war einer den bedeutendsten russisch-orthodoxen Theologen des 20. Jahrhunderts, ein Mann des Widerstandes in Zeiten der Sowjetunion, ein großer Ökumeniker, ein Übersetzer zwischen östlicher und westlicher, und auch zwischen jüdischer und christlicher Theologie. Der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn gehört zu den vielen, die durch ihn zum christlichen Glauben fanden. In der Zeit der Perestroika wurde Men zu einer in ganz Russland und weit darüber hinaus vernehmbaren Stimme für eine Erneuerung des christlichen Lebens in Russland. Heute ist er weitgehend vergessen. Andere prägen das Bild der russischen Orthodoxie. Schade.

Ein zentrales Anliegen von Men war die Aufarbeitung des Stalinismus. Seine These lautete, dass der Stalinismus von der orthodoxen Kirche gleichsam als kritische Predigt an sie selbst gelesen werden könnte über das, was passiert, wenn Staatsmacht und Religion verschmelzen (vgl. Igor Pochohajew, Stellen wir die Altäre auf ..., Frankfurt/Main 2006). So könne sie eines Tages nach dem Ende der Sowjetunion auch selbstkritisch auf ihre eigene Staatsnähe in der vorkommunisitischen Zeit blicken. Der sowjetische Kommunismus mag sich ja zwar als "atheistisch" verstanden haben, aber er nutzte doch alle Ausdrucksmittel des Religiösen, um sich selbst zu einem Gegenstand von Glaubensbekenntnis und seine Führer zu Göttern zu erheben.

Heute befremden uns - jedenfalls mich - viele Entwicklungen in der russischen Orthodoxie: Die Nähe von Staatsmacht und Kirche, die Verbindung von nationaler und religiöser Identität, die ideologische Unterstützung von kriegerischen Handlungen, die rückblickende Idealisierung Stalins als von Christus oder Maria inspirierter Führer im großen vaterländischen Krieg, und so weiter. Doch die Befremdung macht auch taub für die anderen Stimmen in Russland, die es auch gab und gibt - solche wie die von Alexander Men. Wir sollten auf sie hinhören, um unser Bild von Russland und von der russischen Orthoxie zu differenzieren. So könnten Brücken zwischen östlicher und westlicher Christenheit gebaut werden. Und die sind wichtig - für die Einheit der Christenheit und für den Frieden in der Welt.

Von Pater Klaus Mertes

Der Autor

Der Jesuit Klaus Mertes ist Direktor des katholischen Kolleg St. Blasien im Schwarzwald.

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt nicht unbedingt die Meinung der Redaktion von katholisch.de wider.