Noch im "Honeymoon"
Der Papst sei ein "Kind mit Migrationshintergrund", das die Nöte der Leute auf der Straße verstehe, so Sievernich. Er, der ehemalige Bischof der 13 Millionen-Stadt Buenos Aires, sei vertraut mit dem Leben der Menschen in einer Zeit "rasanter Urbanisierung". Im Gegensatz zum emeritierten Papst, den die Frage des Verhältnisses von Glaube und Vernunft umtreibe, beschäftige Franziskus die Frage "Wie verhalten sich Glaube und Gerechtigkeit zueinander?".
Wie schwer diese Frage zu beantworten ist, musste Jorge Mario Bergoglio zur Zeit der Militärdiktatur in Argentinien selbst erfahren. Die Zeit des "Unrechtsregimes" bezeichnete Sievernich als eine "Gratwanderung" für den jetzigen Papst: "Bergoglio war kein Befreiungstheologe, wohl aber Praktiker einer sozialen Pastoral."
Seine Zeichen sind keine "päpstliche Folklore"
Das bestätigte auch ZDF-Chefredakteur Peter Frey, der den Besuch der Flüchtlinge auf Lampedusa nicht als "päpstliche Folklore" sieht. Vielmehr sei Franziskus "der Papst, der durch Zeichen spricht". Frey erinnerte an das schlichte "buona sera" am Tag der Wahl, an die Fahrt im Passat anstelle des Mercedes und an die Fußwaschung im Jugendgefängnis .
Mit Blick auf die Reformen mahnte Frey: "Lassen wir ihm noch ein bisschen Zeit, wir sind ja noch in einer Art 'honeymoon'-Phase." Die übergroße Anfangssympathie könne zu einem "Obama-Effekt" führen, weil die geweckten Hoffnungen nicht erfüllt werden könnten. Das gelte auch für Forderungen zu Themen wie wiederverheiratete Geschiedene, Homosexualität, Empfängnisverhütung oder das Priestertum der Frau.
Der ZDF-Chefredakteur fand aber auch ein kritisches Wort für den neuen Pontifex: "Ein Papst ist sympathisch als Pastor, er kann aber nicht nur Pastor sein. "Der Papst müsse Prozesse anstoßen und darauf achtgeben, dass er gewisse Rollenerwartungen erfülle. Erst kürzlich sei Franziskus nicht zu einem Konzert im Vatikan erschienen, das ihm zu Ehren gegeben wurde. "Verweigerung ist auf die Dauer kein Konzept", so Frey.
Kardinal Lehmann punktet bei Studenten mit Insiderwissen
Lehmann konnte bei den Zuhörern mit Details aus dem Innern der Sixtinischen Kapelle beim Konklave 2013 punkten. Über die Wahl von Franziskus sagte er: "Er war 2005 schon ein enger Kandidat." Lehmann beschrieb den ehemaligen Erzbischof von Buenos Aires als zurückhaltenden Menschen. "Er war eigentlich gar nicht so bekannt", so der Kardinal.
Unter den Kardinälen hätte es indessen eine "wachsende Enttäuschung" darüber gegeben, dass keine Antworten auf die drängenden Fragen der Kirche in Aussicht waren. Fragen zu den Piusbrüdern, der Vatikanbank , Vatileaks und anderen "Umtrieben". Niemand aus der Kurie sei in der Zeit der Sedisvakanz so recht befugt gewesen, Auskunft zu geben. "Diese Unzufriedenheit hat den Blick stärker von Rom weggelenkt", so Lehmann.
Franziskus, den Lehmann als selbstbestimmt und durchsetzungsfähig charakterisiert, sei nicht in "festen Strömungen"zu verorten gewesen. Immer mehr sei er ins Blickfeld der Kardinäle geraten. Und wahrscheinlich habe nicht nur er selbst sich schließlich gesagt: "Der kann anpacken, was uns fehlt - und darum wähle ich ihn."
Von Tobias Schrörs