Wie es ist, als Autist im Corona-Lockdown zu leben

Gerade stehen wir vor der Drehbrücke in Köln-Deutz. Eigentlich sollte es über diese Brücke zu den Poller Wiesen gehen. Ein schöner Ort, um spazieren zu gehen und sich zu unterhalten. Doch die Drehbrücke ist geschlossen. "Jetzt weiß ich auch nicht so genau, wie wir rüberkommen sollen", sagt Werner Otto.
Er grübelt. Das sind die Momente, die er nicht gerne mag. Wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, etwas, das vom Gewohnten abweicht. So wie bei der Bahnfahrt wenige Minuten zuvor, als ein Mann hinter ihm anfing, zu husten und nicht mehr aufhören konnte. Oder wenn er ein Lebensmittel im Supermarkt nicht mehr findet, weil das jetzt eine blaue statt eine grüne Verpackung hat.
Werner Otto, 36, ist Asperger-Autist. Im Corona-Lockdown unterscheidet sich sein Alltag nicht von dem anderer Menschen. Arbeiten gehen, nach Feierabend spazieren, Bücher lesen, Netflix gucken. Auch seine sozialen Kontakte sind auf ein Minimum reduziert. Der große Unterschied: So sah sein Alltag auch schon vor Corona aus. "Allen geht es jetzt so, wie es mir geht. Alle merken jetzt, wie es ist, kaum kommunizieren zu können", sagt er.
Im toleranten Köln akzeptiert
Dass er ein wenig anders ist als andere, merkte Werner Otto früh. Die Mimik und Gestik anderer Menschen interpretiert er oft falsch – gerade während Corona, wenn die Masken einen guten Teil des Gesichts bedecken. Im Gespräch kann er nur schwer Augenkontakt halten. Dazu das "gestelzte Sprechen", wie er es selbst nennt. In seiner Wohnung ordnet er die Objekte, wenn möglich, im rechten Winkel an. "Das beruhigt mich irgendwie. Ich denke mir, wenn alles geordnet und vorhersehbar ist, dann wird auch nichts Unvorhergesehenes passieren."
Werner Otto wuchs im Weserbergland auf. In der Schule wurde er häufiger gemobbt. Doch er kämpfte sich durch, machte anschließend eine Ausbildung auf einer Höheren Handelsschule. "Mein Traum war es, an der Börse viel Geld zu verdienen, um mit 40 ausgesorgt zu haben und für meine Interessen leben zu können." Doch schnell merkte er, dass sich dieser Traum nicht erfüllen kann. Weil er bestimmte Routinen hat, arbeitet er langsamer als andere. An der Börse ein Ausschlusskriterium.
Werner Otto entschied sich, Kulturwissenschaften zu studieren – im toleranten Köln. Hier wurde er akzeptiert – mit seinen Eigenheiten. Irgendwann fiel seinen Kommilitonen auf, dass er sich die Schnürsenkel nicht richtig zubinden konnte. Bei Menschen mit Autismus sei das häufig ein Problem, meinte einer. Werner Otto ließ sich an der Uniklinik untersuchen. Ergebnis: F84.5. Das ist der internationale Code für Asperger-Störungen.

Wenn er nicht arbeitet, schreibt Werner Otto gerne Gedichte und Novellen. "Die Kunst gibt mir die Möglichkeit, neue Gedanken zu denken, die es vorher nicht gab. Und ich kann mich ins Verhältnis setzen. Wo stehen andere Künstler, wo stehe ich?", sagt er.
Plötzlich machte alles Sinn: Die eigentümlichen Routinen. Die Schwierigkeit, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Die enorme Anstrengung, die ihn das Studium kostete, das er später abbrechen musste. Vier Jahre ist die Diagnose jetzt her.
Über eine Zeitarbeitsfirma versuchte Werner Otto den Einstieg ins Berufsleben. Er wurde unter anderem an einen Motorenhersteller vermittelt, bei dem er Pleuelstangen für Viertaktmotoren aufhängte. "Es war schlimm", sagt Werner Otto. Die Kollegen mobbten ihn, weil er länger für bestimmte Arbeitsschritte brauchte und ungewohnte Routinen hatte. "Ich fühlte mich wie das schwächste Glied in der Kette." Zwei Wochen hielt er es dort aus.
Ohne Job und einen Studienabschluss stand Werner Otto am beruflichen Scheideweg. Und dann kam Corona. Eine weltweite Pandemie, die es in der Größenordnung das letzte Mal vor 100 Jahren gegeben hat. Was löst das in einem autistischen Menschen aus?
Jede Veränderung führt bei Menschen mit Autismus zu Stress
"Jede Veränderung führt bei Menschen mit Autismus erst einmal zu Stress", sagt Petra Wüst von der Fachstelle Autismus des Caritas-Förderzentrums St. Laurentius und Paulus in Herxheim. "Menschen ohne Autismus-Störung legen gesammelte Informationen und Erfahrungen in einem inneren Karteikartensystem ab. Von da aus können sie immer wieder darauf zugreifen. Bei Menschen mit Autismus bekommt dagegen jede Info einen eigenen Platz."
Auf diese Infos wieder zurückzugreifen, sei für Autisten ungleich schwieriger, sagt Wüst. Mit einer neuen, ungewohnten Situation klarzukommen, koste Betroffene daher sehr viel Energie. "Was uns in den Schoß fällt, ist für Menschen mit Autismus ein Job, den sie sich aneignen müssen."
Dazu kommt: Während des Corona-Lockdowns fehlen Betroffenen Tätigkeiten, mit denen sie ihren Akku wieder aufladen können. Bei Werner Otto sind das die Reisen durch Deutschland und Europa, bei denen er sich Kulturstätten und Ausstellungen anschaut. Der 36-Jährige nennt das seinen "Kraftort".
„Ich ziehe mich mehr und mehr zurück, falle in eine ängstlich vermeidende Haltung und habe depressive Phasen.“
Auch seine Tätigkeit als Ministrant und die Treffen mit einer Literaturgruppe liegen gerade auf Eis. Die Bibliotheken, Theater und Museen in die er so gerne geht, sind geschlossen. Viele für ihn so wichtige Routinen und Rituale fallen weg. Das geht nicht spurlos an Werner Otto vorbei. "Ich ziehe mich mehr und mehr zurück, falle in eine ängstlich vermeidende Haltung und habe depressive Phasen."
Was ihm Stabilität gibt: Seit Juni 2020 hat er wieder einen Job. Die Agentur für Arbeit hat Werner Otto eine berufliche Reha-Maßnahme bei den Alexianer Werkstätten vermittelt. In deren AlexOffice in Kalk designt er unter anderem Visitenkarten und Kalender für Printmedien.
Arbeit als fester Anker während des Lockdowns
Ziel der 27-monatigen Reha ist es, Werner Otto für den Arbeitsmarkt fit zu machen. Im AlexOffice – in dem unter anderem Menschen mit Autismus-Spektrumsstörungen, Depressionen oder paranoider Schizophrenie gemeinsam Projekte umsetzen – ist Teamfähigkeit eine der wichtigsten Kriterien.
Leiterin Cathleen Schirrmann ist froh, Werner Otto in ihrem Team zu haben. "Er ist sehr detailverliebt, genau und bedacht in allem, was er macht. Er hat aber auch eine poetische Ader, die er bei uns ausleben kann. Außerdem hat er ein gutes Auge für Bild und Schrift." Er helfe auch in der Buchhaltung, sagt die Leiterin anerkennend.
Während des Lockdowns durch die Arbeit einen festen Anker zu haben, sei für Werner Otto und den Rest des Teams sehr wichtig, betont Cathleen Schirrmann. "Viele Menschen hier haben durch ihre Erkrankung oder wegen einer beruflichen Auszeit das Bedürfnis, wieder eine Tagesstruktur zu bekommen – und darüber auch eine Struktur in sich selbst zu finden. Das können sie hier schaffen."

Werner Otto bei der Arbeit im AlexOffice. Hier designt er Visitenkarten und Kalender für Printmedien. Die Leiterin des AlexOffice lobt seine Detailverliebtheit und sein gutes Auge für Bild und Schrift.
Die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen klappe gut, sagt Werner Otto. Wenn auch nicht immer alles in seinem Sinn ist: "Ein Kollege in der Frühschicht vor mir lässt manchmal Zettel liegen, die mich wild machen. Die werden dann erstmal weggeräumt." Auch mag Werner Otto es nicht gerne, wenn er in seiner Arbeit versunken ist und angesprochen wird. Da heißt es dann wie überall im Arbeitsleben: Verständnis aufbringen.
Dass Menschen ohne Autismus ein Verständnis für die Störung entwickeln, ist Werner Otto ein Anliegen. Auch Petra Wüst betont, das sei eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Menschen mit Autismus gut durch den Lockdown kommen. "Außerdem brauchen Betroffene Ansprechpartner in ihrem Umfeld. Die psychischen Auswirkungen des Lockdowns sind oft enorm", sagt die Expertin.
Er sei sich selbst eine offene Frage, sagt Werner Otto
Ansprechpartner könnten Familienmitglieder, Partner, Therapeuten oder Bezugspersonen im Job sein. Hilfe oder zumindest die richtigen Ansprechpartner finde man außerdem bei der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB), Selbsthilfegruppen, regionalen Autismuszentren und Autismus-Sprechstunden von Universitäten.
Wenn er nicht arbeitet, schreibt Werner Otto gerne Gedichte und Novellen. "Die Kunst gibt mir die Möglichkeit, neue Gedanken zu denken, die es vorher nicht gab. Und ich kann mich ins Verhältnis setzen. Wo stehen andere Künstler, wo stehe ich?" Er sei sich selbst eine offene Frage, sagt Werner Otto. "Wenn ich in den Ausstellungen anderer Künstler stehe, denke ich mir manchmal: Da ist jemand, der versteht mich. Er hat etwas Bedeutendes hinbekommen. Das bekomme ich selbst nicht so gut hin. Dass Menschen ein bisschen anders sind, aber etwas daraus machen, finde ich tröstlich."
In den letzten Monaten hat er sich auch mehr mit dem Thema Fotografieren beschäftigt. Damit könne er die gelebte Wirklichkeit abbilden, sagt Werner Otto. "Ich versuche, mir damit klar zu machen: Hey, du hast eigentlich ein ganz gutes Leben."
„Wenn ich in den Ausstellungen anderer Künstler stehe, denke ich mir manchmal: Da ist jemand, der versteht mich.“
Was das Leben noch besser machen würde, wäre ein solider Freundeskreis. Mit dem einen oder anderen Arbeitskollegen könne er sich schon vorstellen, in seiner Freizeit etwas zu machen, sagt Werner Otto. Aber er habe die Befürchtung, Andere vor den Kopf zu stoßen, wenn er sich mal nicht melde. Wann ist es zu viel Kontakt, wann zu wenig? Das abzuschätzen, falle ihm sehr schwer.
Und: "Wenn etwas mein Interesse fesselt, zum Beispiel ein spannendes Buch, eine mir neue Thematik, blende ich die Außenwelt teilweise für bis zu zwei Monate aus. Dann hat das die oberste Priorität und andere Menschen sind fast vergessen." Die meisten Kontakte hielten deshalb nicht lange. Doch auch daran arbeitet Werner Otto, mithilfe eines Verhaltenstherapeuten. Der Lockdown habe da ausnahmsweise einen Vorteil. "Dieser Leidensdruck, 'mehr zu wollen' in der Kommunikation, ist derzeit nicht so groß."
"Ich möchte nicht die nächsten 40 Jahre alleine sein"
An einem Ziel arbeitet Werner Otto gerade intensiv: eine Partnerin zu finden. Dafür hat er sich bei einem Datingportal angemeldet. Ein Date hatte er schon. Doch das lief nicht so gut. Mit anderen Frauen hat er auch schon geschrieben. Ein Gespräch verlief vielversprechend – bis Werner Otto erwähnte, dass er Autist sei. Da sei der Kontakt dann schlagartig abgebrochen, erzählt der 36-Jährige.
Werner Otto bleibt dran. "Ich möchte nicht die nächsten 40 Jahre alleine sein", sagt er. Auch Kinder hätte er später gerne. Übertriebene Ansprüche an eine Partnerin hat er nicht. Sie müsse aber Toleranz dafür aufbringen, dass er manchmal fixiert auf bestimmte Interessen sei und dann nicht immer ein offenes Ohr habe. "Dass sie dann im Hinterkopf hat: Er meint es nicht böse."
Und vielleicht finde seine zukünftige Partnerin ja auch positive Aspekte an der Erkrankung, hofft Werner Otto. "Ich bin ein sehr treuer Mensch und kann gut zuhören. Zusammen können wir dann wertschätzen, was wir gefunden haben."