Das Kreuz als Baum, rettende Planke und Siegeszeichen des Königs

Die Tagzeitenliturgie in der Karwoche

Veröffentlicht am 28.03.2021 um 12:20 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die Gebete und Texte, die in der Karwoche vorgetragen werden, klingen manchmal seltsam und tragen etwas sehr Archaisches in sich. Mit ihrer tiefen theologischen Symbolik passen sie aber gerade deshalb so gut in die Heilige Woche. Das gilt auch für die Feier der Tagzeitenliturgie der Karwoche.

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Die Karwoche ist reichlich gefüllt mit Liturgien, die sich nicht im Vordergründigen erschöpfen, sondern erst in der Betrachtung ihrer Tiefe sich wirklich voll und ganz erschließen. Besonders dicht an Symbolen und biblischen Verknüpfungen ist freilich die Feier des österlichen Triduums von der Liturgie des Gründonnerstags bis zum Ostertag selbst. Doch nicht nur die Eucharistiefeiern und die Liturgie vom Leiden und Sterben Jesu am Karfreitag tragen ein herausragendes Gepräge, auch die Feier der Tagzeitenliturgie ist in diesen Tagen ausgeschmückt mit poetischen Texten und reichen theologischen Anspielungen.

In den Laudes der Karwoche wird der Hymnus "Heilig Kreuz, du Baum der Treue" gesungen. Er stammt aus der Feder von Venantius Fortunatus, der in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts gewirkt hat. Venantius war nicht nur Bischof von Poitiers, sondern auch als Dichter und Hagiograph tätig. Unter anderem verfasste er ein großes Epos, das den heiligen Martin von Tours rühmt, der nur wenige Jahrhunderte zuvor in Poitiers das Sakrament der Taufe empfangen hatte. In seinem hymnischen Text, der mit den lateinischen Worten "Crux fidelis" beginnt, legt Venantius ein Preislied auf das heilige Kreuz vor: In der ersten Strophe des Textes vergleicht er das Kreuz mit einem Baum. Wie jeder Baum in der Natur, so trägt auch der Kreuzesbaum Laub, Blüte und Früchte; doch darin übertrifft das Kreuz auch alle anderen Bäume, denn keiner trägt solche Früchte, wie das Kreuz.

Kreuz als rettende Planke aus Schiffbrauch dieser Welt

Die zweite Strophe führt den Vergleich fort: Der Kreuzesbaum wird aufgefordert, seine Äste zu neigen, da sein Holz eine "königliche Last" trägt. Ungewohnt erscheint die Bitte in den letzten Versen, den "Gliedern des Schöpfers an dem Stamme linde Rast" zu bieten. Die dritte Strophe erweitert das Bild des Kreuzesbaum um eine weiteren Vergleich: Das Kreuz wird als "Planke, die uns rettet, aus dem Schiffbruch dieser Welt" bezeichnet. Venantius greift auf ein eigenartiges Motiv zurück: Die Welt, das Leben der Menschen, wird als Schiffbruch verstanden. Am ehesten wird dieser Gedanke noch von der Paradiesgeschichte her verständlich. Das Leben in der Gottunmittelbarkeit ist seit dem Sündenfall gestört, das ganze Leben der Menschen ist von Sünde und Schuld beherrscht. Aber es gibt Hoffnung: das Kreuz. Es ist die "einzige Hoffnung", die aus dieser prekären Situation noch retten kann.

Venantius vergleicht dieses Geschehen mit dem Schiffbruch: So, wie die Überlebenden auf dem Wasser treiben und nach einer Schiffsplanke greifen, um überleben zu können, so ist das Kreuz die Planke auf dem Schiffbruch des Lebens, durch das die Menschen von der Sünde erlöst werden können. Ein Bild, das sehr gekonnt beschreibt, was mit dem Erlösungsgeschehen am Kreuz eigentlich gemeint ist: Menschen können sich an das Kreuz klammern, sie dürfen es festhalten, weil es Rettung und Hoffnung verheißt. Das Kreuz ist die einzige Hoffnung in der durch die Sünde verderbten Schöpfung. Diese Gewissheit bringt Venantius Fortunatus in seinem Hymnus zur Sprache. Sehr dicht und poetisch formuliert er, welche Hoffnung der Tod Jesu am Kreuz für ihn verheißt.

Das Stundengebet: "Betet ohne Unterlass"

Es ist aus dem Leben von Ordensleuten und Klerikern nicht wegzudenken: das Stundengebet. Im Laufe der Kirchengeschichte entwickelte sich diese Form des Gebets zu einer Gliederung des gesamten Tages. Katholisch.de erklärt Bedeutung und Aufbau von Laudes, Vesper und Komplet.

Auch der Hymnus, der während der Karwoche für die Vesper vorgesehen ist, stammt aus der Feder des Bischofs von Poitiers. Er beginnt mit den lateinischen Worten "Vexilla regis prodeunt", was in der deutschen Übertragung so viel bedeutet wie "Die Standarten des Königs treten hervor", oder frei übertragen: "Der König siegt, sein Banner glänzt". Der Hymnus hat eine lange Geschichte: Erstmals gesungen wurde er wohl am 19. November 569, als auf Bitten der heiligen Radgundis eine Kreuzreliquie von Byzanz nach Poitiers überführt wurde.

Freilich ist auch diese Kreuzestheologie, die Venantius in seinen Text einfließen lässt, ganz im 6. Jahrhundert verhaftet und klingt für moderne Ohren etwas gewöhnungsbedürftig. Die erste Strophe des Hymnus blickt auf das "Geheimnis des Kreuzes", an dem der Schöpfer des Lebens gestorben ist. In der zweiten Strophe wird dieser Gedanke weiter ausgezogen, indem die klassischen neutestamentlichen Motive eingeflochten werden: Der Leib, der am Kreuz hängt, wird vom Speer durchbohrt, sodass Blut und Wasser von ihm ausströmen. Seltsam klingt die dritte Strophe, in welcher das Kreuz als Erfüllung einer Weissagung Davids angesehen wird: "Erfüllt ist nun, was David einst im Liede gläubig kundgetan, da er im Geiste prophezeit: Vom Holz herab herrscht unser Gott". Wahrscheinlich rekurriert der Text damit auf Psalm 96, wo es heißt: "Verkündet bei den Nationen: Der Herr ist König" (V. 10). Der Zusatz "vom Holz herab" könnte eine frühchristliche Ergänzung des alttestamentlichen Textes sein.

Jedenfalls ist die Lesart des Fortunatus sehr kreativ: Alttestamentlich gibt es keine Bezugsstelle, die David und das Königssein Gottes am Kreuz in Verbindung bringt. Die vierte Strophe preist das Kreuz als Baum "von königlichem Purpur rot"; die Königsmetapher, die in der vorgehenden Strophe angeklungen ist, wird hier fortgeführt. Das Kreuz wird als "werter, erwählter Stamm" gepriesen, dem die Ehre zukommt, "den Lösepreis der Welt" zu tragen. "O crux, ave, spes unica", so hebt die fünfte Strophe an, "o heilges Kreuz, sei uns gegrüßt, du einzge Hoffnung dieser Welt". Das Kreuz wird als Kraft der Treuen und Vergebung der Sünden verstanden. Den Abschluss des Hymnus bildet eine trinitarische Doxologie, die noch einmal den Gedanken der Erlösung durch das Kreuz anklingen lässt.

Bild: ©KNA/Debbie Hill/CNS photo (Symbolbild)

Das Kreuz, eigentlich ein grausames Folterwerkzeug, wird im Hymnus des Venantius Fortunatus als Siegeszeichen des Königs gedeutet.

Insgesamt bietet der Hymnus des Fortunatus eine Kreuzestheologie, die ihren Grundtenor schon im ersten Vers erhält: Das Kreuz, das eigentlich ein grausames Marterwerkzeug ist, wird als Siegeszeichen des Königs Christus gedeutet. Die gesamte Kreuzigung und die vorgehende Geißelung stehen nicht im Licht einer überaus großen Brutalität, Fortunatus versteht sie vielmehr ganz und gar vom Gedanken der Erlösung her. Die Qualen Christi und die Details der Marter werden nicht verschwiegen, aber sie dienen nicht dazu, die Leiden Christi zu betrachten, sie sind vielmehr nur als Durchgangsstation auf dem Weg zum Sieg am Kreuz zu begreifen. Damit wird die Perspektive eingeholt, die Fortunatus im ersten Vers des Hymnus eröffnet: Das Sterben Christi ist der Augenblick seiner Erhöhung, der Anfang seiner Herrschaft. Am Kreuz ist Christus zum König geworden.

Hymnische Texte, die das Kreuz besingen

Es gibt noch einen dritten Hymnus in der Karwoche, der aus der Feder des Fortunatus stammt und ebenfalls zur Übertragung des Kreuzesreliquie entstanden ist: Es ist der Hymnus, der für die Lesehore vorgesehen ist, und mit den Worten "Preise, Zunge, und verkünde" beginnt. Wie auch die beiden vorgehenden Texte, steht auch dieser unter dem Gedanken der Erlösung, die durch das Kreuz erwirkt ist und die Ursünde des Adam wiedergutmacht. Durch den "Waffengang", der am Kreuz, dem "erhabenen Siegeszeichen", vollzogen wird, wird die gesamte Schöpfung von der Sünde reingewaschen.

Die gesamte Tagzeitenliturgie der Karwoche ist geprägt von diesen hymnischen Texten, die das Kreuz besingen und einen möglichen Zugang zum Sterben Jesu eröffnen. Gerade die Gebete und Texte, die in der Karwoche vorgetragen werden, klingen oft seltsam und tragen etwas sehr Archaisches in sich. Doch vielleicht passen sie sich auch deshalb so gut in die Heilige Woche, weil sie dadurch einladen, sich immer neu mit dem Leiden und Sterben Jesu am Kreuz auseinanderzusetzen. Denn auch das Kreuz passt ja nicht in diese Welt, es drängt sich vielmehr als ein Zeichen auf, das Widerspruch hervorruft. Die Liturgie, die in der Karwoche von einer großen Schlichtheit geprägt ist, nimmt diese Gedanken auf. Sie lenkt den Blick auf das Wesentliche und lädt ein, das Kreuz Jesu, das in diesen Tagen im Mittelpunkt steht, immer neu zu betrachten.

Von Fabian Brand