Vom Horten und Hergeben

Minimalismus: Ist weniger dann wirklich mehr?

Veröffentlicht am 07.06.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Spiritea

Bonn ‐ Durchschnittlich besitzen Deutsche 10.000 Gegenstände. Um diesen Besitz muss man sich kümmern, das kostet Zeit. Minimalisten hingegen beschränken sich auf das Nötigste. Freiheit durch Beschränkung – unsere Redakteurin fragt sich: Macht das Sinn?

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Vor einiger Zeit berichtete meine Kollegin, dass Sie ihren gesamten Haushalt nach der Marie-Kondo-Methode entrümpelt hat. Die japanische Aufräumcoachin verfolgt das Prinzip, dass man nur das behalten darf, was einen wirklich glücklich macht. Dafür muss man jedes Teil, das man besitzt, einmal in die Hand nehmen und erspüren, welche Emotion es in einem hervorruft. Nur Dinge, die uns ein Glücksgefühl entlocken, dürfen bleiben. Alles andere muss gehen. Die Kollegin ist begeistert und schwärmt von der Freiheit, die das Ausmisten für sie in ihrem Haus und dadurch in ihrem Kopf bewirkt hat.

Ich gestehe an dieser Stelle, ich habe viel. Zu viel. Meine Mutter ist das klassische Nachkriegskind. Ihre Kindheit war geprägt von Entbehrung und für sie bedeutet viel haben Luxus. Meine Generation hingegen ist im stetig wachsenden Überfluss großgeworden. Luxus definiert sich nicht mehr über Masse. Dennoch: Die Parole "Das ist doch noch gut, das kann man verwahren" begleitet mich seit meiner Kindheit bis heute und hat sich als Glaubenssatz lange Zeit in meinem Geist manifestiert. Erst in den letzten Jahren habe ich begonnen, mehr und mehr zu hinterfragen, ob man den ganzen Kram wirklich aufheben muss, nur weil er ja noch gut ist. Und so habe auch ich begonnen, Dinge gehen zu lassen –  und das fühlt sich gut an. Doch wie weit bin ich bereit zu gehen?

Weniger Besitz als Weg zum Glück

Im Internet stolpert man seit Jahren beinahe täglich über Menschen, die mit wenig auskommen und das so wollen. Dieses Weniger-ist-mehr-Prinzip mutiert aus ihrem Mund häufiger zu einer Art Glücksversprechen. Weniger haben bedeutet, sich weniger kümmern zu müssen und somit mehr Raum für anderes zu haben. Was dieses andere ist, muss jeder für sich selbst entscheiden.

Bild: ©Adobe Stock / kostikovanata

Minimalistische Einrichtung

Tauschen und Leihen

Auch die stetig wachsende Sharing-Community lebt von diesen Minimalisten. Unzählige Plattformen und Social-Media-Gruppen ermöglichen es einem, Gegenstände zu tauschen oder auszuleihen, die man selbst nicht hat, aber eben doch braucht. Die teils moralisierenden Berichte von Minimalismus-Anhängern faszinieren mich zwar, gleichzeitig schrecken sie mich aber auch ab. Ich verstehe nicht, wieso man Freiheit nur durch Abschaffen, also letztlich durch Begrenzung erreicht. Ein Akkuschrauber, der mir beim bloßen Berühren keine Glücksgefühle entlockt, hat doch trotzdem seine Berechtigung in meiner Habe. 

Ein Date mit mir selbst

Fakt ist, dass ich mehr Zeit brauche, meinen Besitz zu verwalten und zu pflegen. Aber das Sortieren und Reorganisieren meiner Dinge gibt mir Zeit, mit mir zu sein. Es verschafft mir ein Erfolgserlebnis, das ist mein Glücksgefühl. Wohingegen mich allein die Vorstellung stresst, für jedes fehlende Teil eine Onlinerecherche durchzuführen, um dann mit dem Besitzer einen Termin auszumachen und gegebenenfalls Tage später endlich für wenige Stunden Besitzer des Akkuschraubers zu sein. Da gehe ich lieber in den Keller und nehme mir das ungeliebte Werkzeug. Auch das Beschaffen von Dingen frisst Ressourcen, nur andere. 

Wer weiß, wohin mein Weg mich noch führt, aber erst einmal habe ich beschlossen, keine Minimalistin zu werden. Es ist mir einfach zu anstrengend. Ja, ich habe viele Dinge. Aber eben auch weil ich sie lange verwahre und verwende, anstatt Neues zu kaufen. Und ist das nicht immerhin nachhaltig?

Von Melina Schütz