Big-Five-Modell und viele Forderungen

Die vielen Seiten der Persönlichkeit wertschätzen lernen

Veröffentlicht am 28.06.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Spiritea

Bonn ‐ Jeder Mensch ist anders. Was wie eine Binsenweisheit klingt, fällt im Alltag immer wieder unter den Tisch. Doch wahrzunehmen, wer man ist und wie man sich verändert, kann uns zufriedener und das Leben erfüllter machen.

  • Teilen:

HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.

Wer sind wir eigentlich? Es gibt wenige Fragen, die Menschen so existentiell beschäftigen wie diese. Wie lassen sich Stimmungen, Veranlagungen, Temperamente so zusammenfassen, dass sie im Wust von Situationen und Emotionen ein einigermaßen konstantes Bild abgeben, das sich auch mit dem anderer Menschen vergleichen lässt?

Zwei Psychologen aus den USA, Gordon Allport und Henry Odbert, suchten in den 1930er Jahren aus einem Wörterbuch alle Bezeichnungen heraus, die Persönlichkeiten beschreiben. Sie filterten diese Wörter, fassten ähnliche zusammen – und kamen so am Ende auf fünf Kategorien, über deren Ausprägung sich Persönlichkeit beschreiben ließ. Das Big-Five-Modell arbeitet mit Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus. So lässt sich etwa über einen Menschen sagen, dass er am liebsten jedes Jahr fünf Kontinente bereisen würde, im Büro eher nachlässig und wenig ambitioniert, spontan und gesprächig, hilfsbereit und harmoniebedürftig sowie sehr entspannt ist. Dagegen kann es genauso gut Menschen geben, die auf Altbekanntes setzen, diszipliniert und ehrgeizig, in sich gekehrt, misstrauisch und ängstlich sind – und alle Schattierungen dazwischen.

Doch so minutiös sich Persönlichkeit aufschlüsseln lässt, so ist sie doch der stetigen Veränderung unterworfen. Ein langfristiger Faktor dabei ist die Zeit: Je älter wir werden, desto gelassener, gewissenhafter, geselliger und stabiler werden wir oft – der Volksmund nennt das Reifung.

Erwartungen prägen

Allerdings hängt, wie wir uns verhalten, was wir tun und wie wir es tun, auch stark von der Situation und den an uns gerichteten Erwartungen ab: Im Büro oder einem Geschäft ist es oft vonnöten, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren und diese gewissenhaft und selbstständig zu erledigen. Wenn ein Elternteil aber nur eine halbe Stunde später die Kinder aus dem Kindergarten abgeholt und nach Hause mitgenommen hat, sieht die Welt gleich ganz anders aus: Die tobenden Energiebündel fordern aus jeder Ecke des Wohnzimmers Aufmerksamkeit, während der Haushalt auch noch erledigt werden muss – jetzt ist Umsicht und Offenheit für Unerwartetes gefragt.

Bild: ©francescokekkol/Fotolia.com

Oft sind wir jemand anders - nicht nur an Karneval

Daneben gibt es ausgesprochene oder unausgesprochene Anforderungen: Mit der Zeit bekommen wir in der Regel mit, was der Team- oder Geschäftsleitung gefällt, welche Qualitäten geschätzt, welche ignoriert werden. Danach richten wir uns natürlich, um lieber positiv als negativ aufzufallen – ob bewusst oder unbewusst. Doch nicht nur von außen kommen Erwartungen, auch von innen: Jeder hat ein Bild im Kopf, wie ein gelungenes Leben auszusehen hat, wie viel Zeit man mit den Kindern und als ganze Familie verbringen sollte, was und wie man es vorleben sollte.

Wie wir uns verhalten, hängt also nicht nur von unserer individuellen Veranlagung ab, die sich dazu auch noch ändert – sondern auch von Vorgaben und Bedingungen ganz verschiedener Art. Das hat Folgen für das Ich: Wir verbiegen uns, weil wir (meinen das zu) müssen, verändern uns vielleicht, ohne das zu ahnen. Wir wollen über unseren Schatten springen und Menschen treffen, obwohl wir lieber allein sein würden (oder andersherum). All das kann unzufrieden machen.

Sich selbst neu kennenlernen

Wir müssen uns regelmäßig neu selbst kennenlernen. Bist du wirklich so ordentlich und wirst deshalb von deinem Chef gelobt – oder hast du dir das über viele Jahre geschickt und erfolgreich antrainiert, obwohl du am liebsten alles kreuz und quer im Raum verteilen würdest? Nichts daran muss schlecht sein: Wer es geschafft hat, eine Eigenschaft, die man an sich als Fehler bemängelt, erfolgreich zu überwinden – dem darf gratuliert werden! Aber, und das gehört auch dazu: Vielleicht hilft es dir, Fenster zu haben, in denen du ganz fern von Anforderungen einfach dich selbst ausleben darfst. Mache den Samstag zu deinem Unordnungstag, an dem alles liegen bleiben darf, wo es ist – und räum Sonntag wieder auf. Oder, wenn du keine Lust hast, nimm den Sonntag noch mit dazu.

Unsere Persönlichkeit wird von so vielen Kräften geformt, wir dürfen Freiräume haben, auch die etwas weniger glänzenden Seiten unseres Selbst auszuleben – und so zufriedener und mehr mit uns im Reinen zu werden. Jede Seite unserer Persönlichkeit ist wertvoll, denn sie gehört zu uns, sie macht uns aus – das sind wir. Das wahrzunehmen und wertzuschätzen heißt, uns als vollumfängliche Persönlichkeiten immer wieder neu zu entdecken und anzunehmen.

Von Christoph Paul Hartmann