Trotz Strafdekret blieb die Tat des Priesters bis jetzt unbekannt

Neuer Missbrauchsverdacht gegen "Laudato si"-Schöpfer Winfried Pilz

Veröffentlicht am 30.06.2022 um 13:24 Uhr – Lesedauer: 

Köln ‐ Er war einer der Großen der katholischen Jugendarbeit: Als Seelsorger und Präsident der Sternsinger prägte Winfried Pilz über Jahrzehnte die Kirche. Nun ist bekannt geworden: Zur selben Zeit, als er das Lied "Laudato si" dichtete, missbrauchte er einen Mitarbeiter – und es gibt weitere Vorwürfe.

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Als 2015 Papst Franziskus seine Enzyklika "Laudato si" veröffentlichte, war der Titel in Deutschland schon lange in aller Munde: Das gleichnamige Lied nach dem Sonnengesang des heiligen Franz von Assisi ist eines der bekanntesten Neuen Geistlichen Lieder. Sein Schöpfer redete gern über seinen größten Hit. Dabei war Monsignore Winfried Pilz nicht einfach zu erreichen: Seinen Ruhestand verbrachte der ehemalige Präsident des Päpstlichen Missionswerks "Die Sternsinger" in Leutersdorf in der Oberlausitz, wenige Kilometer von seinem heute in Tschechien liegenden Geburtsort entfernt. Über die deutschsprachige Gemeinde in Prag, seinen letzten Einsatzort, konnte der Kontakt hergestellt werden – einmal erreicht, berichtete Pilz begeistert über die konzilsbewegte Zeit in den 1970er-Jahren, als sein "Laudato si" in Rocca di Papa in Italien entstand.

Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand wusste: Pilz lebte nicht nur abgelegen in einem der östlichsten Orte Deutschlands in einer Gemeinde mit 3500 Einwohnern – er lebte auch unter bischöflichen Auflagen, wie das Erzbistum Köln am Mittwochabend mitteilte: Der Kontakt mit Minderjährigen ohne weitere anwesende Erwachsener wurde ihm demnach im Februar 2014 von Kardinal Joachim Meisner, dem damaligen Erzbischof, verboten. Das Erzbistum schildert die Gründe so: "Pfarrer P.", wie Pilz dort genannt wird, sei beschuldigt worden, einen Angestellten, der sich 2012 an das Erzbistum gewandt hatte, in den 1970er-Jahren sexuell missbraucht zu haben,. Ob die betroffene Person zum Tatzeitpunkt volljährig war, sei nicht mehr abschließend festzustellen gewesen – aufgrund der Anstellung wird sie aber als schutzbedürftig eingestuft. Das Erzbistum habe ein Verfahren eingeleitet. Der Vorwurf habe sich teilweise bestätigt, das Ergebnis der Untersuchung wurde an die Glaubenskongregation übermittelt. Kardinal Meisner habe einen Verweis ausgesprochen, eine Geldstrafe auferlegt und das Kontaktverbot zu Minderjährigen festgesetzt. Eine Meldung an die Staatsanwaltschaft sei erst 2018 erfolgt, die aufgrund der eingetretenen Verjährung aber nicht mehr tätig werden konnte.

Im Kölner Missbrauchsgutachten taucht sein Fall wohl als "Aktenvorgang 148" auf – die dort genannten Rahmendaten stimmen überein, eine Bestätigung des Erzbistums steht noch aus; das Kindermissionswerk schreibt in seiner Stellungnahme ohne Angabe der Vorgangsnummer, dass der Fall Pilz im Gutachten auftaucht. Ein Sprecher des Erzbistums teilte auf Anfrage mit, dass die Beantwortung dieser und weiterer offenen Fragen etwas mehr Zeit benötige, sicherte aber Antworten zu. Der Betroffene war laut Gutachten Sekretär des Beschuldigten, das Gutachten geht davon aus, dass er zur Tatzeit bereits 18 Jahre alt war. Der Beschuldigte räumte laut Gutachten einen sexuellen Kontakt ein, der jedoch einvernehmlich gewesen sei. Die Glaubenskongregation hat das Verfahren 2013 nach Köln zurückgewiesen, die Sanktionen gegen den Beschuldigten erfolgten 2014 in Form eines Strafdekrets durch Kardinal Meisner. Über die aus der aktuellen Kölner Presseerklärung bekannten Sanktionen hinaus taucht im Gutachten zusätzlich noch die Auflage auf, sich persönlich bei dem Betroffenen zu entschuldigen. Die Geldstrafe sei eine Beteiligung an den Kosten für die Zahlung an den Betroffenen aufgrund dessen schon 2012 positiv beschiedenen Antrags auf Leistungen in Anerkennung des Leids für Betroffene sexuellen Missbrauchs gewesen. Unter den Aktenvorgängen mit Pflichtversäumnissen wird der von Pilz nicht geführt, die Gutachter gehen also von einem korrekten Vorgehen aus. Wie es sein konnte, dass Pilz ein Jahr nach dem Strafdekret Interviews geben durfte und über die Zeit reden konnte, in der die Tat fiel, wird nicht erklärt. Anscheinend gab es kein Äußerungsverbot, obwohl mit seinem 75. Geburtstag 2015 und seinem goldenen Priesterjubiläum 2016 Jubiläen absehbar waren, zu denen mit Berichterstattung zu rechnen war – und tatsächlich porträtierte etwa die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) Pilz zum 75., die von dem Strafdekret so wenig wissen konnte wie der Rest der Öffentlichkeit.

Hinweise auf weitere Fälle erst 2021 aufgeworfen

Nachdem 2018 klar war, dass die Verfolgung nach staatlichem Recht aufgrund der Verjährung nicht mehr möglich war, war der Fall eigentlich nach kirchlichem wie staatlichem Recht abgeschlossen. Aber drei Jahre später, 2021, hätten sich dann neue Hinweise auf mögliche weitere Betroffene ergeben, teilte das Erzbistum nun mit. Die Stabsstelle Intervention begann Recherchen, die sich den Angaben zufolge bis jetzt zogen: Pilz' berufliche Biographie ist umfangreich. Von seiner Kaplanszeit in Euskirchen und Bonn ab 1966 bis zu seiner seelsorglichen Tätigkeit in der deutschsprachigen Gemeinde in Prag bis 2012 hatte Pilz vor allem in der Jugendarbeit viele Einsatzorte: unter anderem als Stadtjugendseelsorger, als Rektor in der Jugendbildungsstätte Haus Altenberg und Diözesanjugendseelsorger, und von 2000 bis 2010 als Präsident des Kindermissionswerks. Mit den Sternsingern erreichte er seine größte Prominenz. Jahr für Jahr war Pilz bei den Sternsinger-Empfängen in Berlin neben Kanzler, Kanzlerin und Bundespräsident in den Medien.

Das Bistum Dresden-Meißen gab gegenüber der KNA an, erst in der zweiten Junihälfte 2022 vom Erzbistum Köln informiert worden zu sein. Pilz letzter Wohnort gehört zu dem sächsischen Bistum. Bisher gebe es dort keine Verdachtsmomente, man schließe sich aber dem Aufruf an mögliche weitere Betroffene an, sich zu melden.

Sternsinger-Präsident Winfried Pilz, Bundeskanzlerin Angela Merkel und BDKJ-Präses Simon Rapp beim Sternsingerempfang im Bundeskanzleramt 2010
Bild: ©Markus Nowak/KNA (Archivbild)

Als Kindermissionswerk-Präsident hatte Winfried Pilz eine große Bühne: Wie hier Angela Merkel empfangen die Kanzler und Bundespräsidenten jedes Jahr die Sternsinger in ihren Amtssitzen.

Von den nun bekannten Vorwürfen ahnte bei den Sternsingern anscheinend niemand etwas. Nach dem Aufruf des Erzbistums an mögliche weitere Betroffene, sich zu melden, zeigte sich das Kindermissionswerk erschüttert. "Wir sind tief betroffen von der Missbrauchstat von Pfarrer P. Das Leid der Betroffenen von sexuellem Missbrauch können wir nicht ermessen. Uns macht diese Tat fassungslos, traurig und wütend zugleich", heißt es in der noch am Abend der Kölner Veröffentlichung herausgegebenen Stellungnahme. Laut Kindermissionswerk wisse man dort seit 2021 von den Vorwürfen. Die Sternsinger hätten sich daraufhin beim Erzbistum für größtmögliche Transparenz und einen "zeitnah zu veröffentlichenden Aufruf" an weitere Betroffene ausgesprochen.

Nachruf ohne Zwischentöne

Der Nachruf des Hilfswerks nach Pilz' Tod im Februar 2019 war nach dieser Darstellung also in Unkenntnis der Vorwürfe verfasst. Sein Nachfolger, Prälat Klaus Krämer, würdigte den Verstorbenen als "starke Stimme für die Kinder in aller Welt". Pilz habe ein ganz besonderes Gespür für die Lebenssituation benachteiligter Kinder und Jugendlicher in den Projektländern der Sternsinger gehabt. Ähnlich liest sich auch der Nachruf aus dem Erzbistum Köln, wo man seit 2012 von den Vorwürfen wusste. Mit dem Strafdekret stand für das Erzbistum seit 2014 auch die Schuld fest. Dennoch würdigte auch der Personalleiter des Erzbistums, Pfarrer Mike Kolb, Pilz als "begnadeten Prediger und tiefgläubigen Charismatiker, der in der Zeit nach dem II. Vatikanischen Konzil als Diözesanjugendseelsorger und Leiter der Bildungsstätte Haus Altenberg viele junge Menschen im Glauben inspiriert, bestärkt und begleitet hat". In Altenberg und als Diözesanjugendseelsorger war Kolb vor seiner Berufung zum Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal ein Nachfolger von Pilz. Von der Jugendarbeit ins Erzbischöfliche Generalvikariat wechselte Kolb 2016, also nach Abschluss des kirchlichen Verfahrens, aber vor der Feststellung der Verjährung durch die Staatsanwaltschaft. Zwischentöne gibt es in seinem Nachruf nicht, keine Rede von "Licht und Dunkelheiten", wie es in "Laudato si" heißt, zur Sprache kommt nur das Helle. Dass hier ein für einen sexuellen Übergriff verurteilter Priester verabschiedet wird, ist aus dem Nachruf des Erzbistums nicht zu erahnen.

Der Schock über das Bekanntwerden der Vorwürfe ist groß. Auch wenn Erzbistum wie Kindermissionswerk nur von "Pfarrer P." sprechen, ist offensichtlich, dass "Pfarrer P." der bei vielen immer noch unter seinem Spitznamen "WiPi" aus der Jugendarbeit bekannte Winfried Pilz ist. Kaum war die Nachricht in der Welt, drückten Freunde und Weggefährten in den sozialen Medien Trauer und Entsetzen aus. Die optimistischeren unter ihnen hoffen auf Aufklärung und zumindest bei neuen Verdachtsfällen auf Entlastung. Doch das Entsetzen überwiegt, sich in dem charismatischen Kirchenmann so getäuscht zu haben. Das Erzbistum Köln geht nun aktiv auf die Suche nach weiteren Betroffenen. "Auch wenn bei bereits ver­storbenen Beschuldig­ten eine abschließen­de Klärung nur in seltenen Fällen möglich ist, sieht sich das Erzbistum Köln den Betroffe­nen von sexua­lisierter Gewalt gegen­über in der Pflicht, allen Hin­weisen nachzu­gehen, um den Sach­verhalt möglichst um­fäng­lich zu klären", heißt es in der Pressemitteilung.

Von Felix Neumann

Ergänzung, 30. Juni 2022, 15.55 Uhr: Informationsstand des Bistums Dresden-Meißen.

Aufruf an unbekannte Missbrauchsbetroffene

Die Stabs­stelle Inter­vention des Erz­bistums Köln sucht an den ehemaligen Einsatzorten von Winfried Pilz nach möglichen bislang unbekannten Missbrauchsbetroffenen. Informationen und Kontaktmöglichkeiten stellt das Erzbistum auf seiner Webseite zur Verfügung.