Leitende Geistliche irritiert über Vorwurf der Wissenschaftler

Debatte über evangelische Missbrauchsstudie geht weiter

Veröffentlicht am 26.01.2024 um 12:19 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Missbrauch von Kindern galt lange als Problem der katholischen Kirche. Jetzt zeigt eine Studie, dass auch die evangelischen Landeskirchen nicht besser dastehen. Leitende Geistliche nehmen Stellung – und zeigen sich teilweise irritiert.

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Nach der Vorstellung der Studie über Missbrauch in der evangelischen Kirche geht die Debatte über Konsequenzen weiter. Mehrere leitende Geistliche zeigten sich am Freitag irritiert über den Vorwurf der Wissenschaftler, nicht alle Informationen zur Verfügung gestellt zu haben.

Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR), Thorsten Latzel, sagte der "Kölnischen Rundschau": "Wir haben bei uns im Rheinland alle Personal- und Disziplinarakten auf landeskirchlicher Ebene durchgesehen und die Informationen dazu auch weitergegeben." Latzel kündigte eine weitere wissenschaftliche Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch an. So wolle die rheinische Landeskirche gemeinsam mit den Landeskirchen von Westfalen und Lippe nun eine eigene große Regionalstudie in Auftrag geben. Latzel beklagte den ungleichen Umgang mit Anerkennungsleistungen in den Landeskirchen. Notwendig seien "einheitliche, verlässliche Standards in allen 20 Landeskirchen, die wir mit den Betroffenen gemeinsam klären". Die Studienautoren hatten bei der Vorstellung am Donnerstag scharf kritisiert, dass trotz vertraglicher Abmachung nur eine von 20 Landeskirchen neben den Disziplinarakten auch die aussagekräftigeren Personalakten ausgewertet habe.

Der Berliner evangelische Bischof Christian Stäblein hält die Studie für einen "ersten, ganz wichtigen Schritt" zur Aufarbeitung, aber noch nicht für ausreichend. "Wichtig ist, dass das Dunkelfeld aufgearbeitet wird, also dass das, was noch nicht aktenkundig ist, aufgedeckt wird, und daran arbeiten wir", sagte er im rbb-Inforadio. Stäblein betonte, dass es mehr Ressourcen brauche, um jetzt noch die Personalakten zu durchforsten. Auf die Frage, ob die Kirche bereit sei, sich externen Fachleuten zu öffnen, antwortete der Bischof: "Ich denke, wir müssen unbedingt. Und die Studie zeigt noch mal, wie sehr wir an dieser Stelle versagt haben." Die Kirche habe Betroffene nicht ausreichend geschützt, nicht ausreichend gehört und auch die Aufarbeitung verschleppt. Laut der Studie wurden in der gesamten evangelischen Kirche in Deutschland und der Diakonie nach einer "spekulativen" Hochrechnung 9.355 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht. Die Zahl der Beschuldigten liegt demnach bei 3.497. Rund ein Drittel davon seien Pfarrer oder Vikare.

"Alles vorgelegt, was von uns erwartet wurde"

Sachsens evangelischer Landesbischof Tobias Bilz zeigte sich nicht überrascht von den Ergebnissen: "Wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen und konsequent handeln", sagte er der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Die Landeskirche habe "alles vorgelegt, was von uns erwartet wurde". Zugleich betonte er: "In unserer Landeskirche hat es in den vergangenen drei Jahren einen wirklichen Schub gegeben, wie wir die Dinge aufarbeiten."

Bayerns Landesbischof Christian Kopp meldete sich ebenfalls zu Wort. Laut seiner Pressestelle wandte er sich in einem Brief an die evangelischen Gemeinden und Einrichtungen und bekräftigte darin erneut: "Sexualisierte Gewalt darf keinen Platz haben in unserer Kirche!" Zugleich bekannte er, fassungslos vor jedem Fall einer betroffenen Person zu stehen. Es schreie zum Himmel, dass es in evangelische Kirche Gewalt gegen Kinder, Frauen und Männer gebe.

In dem Schreiben bittet Kopp darum, bei Intervention und Prävention aufmerksam zu sein und weitere Schritte zu gehen: "Wir schaffen das gemeinsam." Weiter erklärte er, dass sich alle Landeskirchen zeitnah der Durchsicht aller Personalakten stellen müssten, was in der Kürze der Zeit, die die Forscher der Forum-Studie vorgegeben hätten, nicht möglich gewesen sei. Die Wissenschaftler hatten im Nachhinein moniert, dass die Zuarbeit der Landeskirchen alles andere als gut gewesen sei. Einige Landeskirchen bestreiten dies aber.

Bild: ©epd-bild/Jens Schulze

Die frühere hannoversche Landesbischöfin und EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann ruft alle Landeskirchen dazu auf, auch die Personalakten auszuwerten.

Kopps Amtsvorgänger als Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, der von 2014 bis 2021 auch EKD-Ratsvorsitzender war, äußerte sich am selben Tag auf seiner Facebook-Seite. Die Studie war in der Zeit seines Ratsvorsitzes in Auftrag gegeben worden, "weil wir wissen wollten, was die Mechanismen in der evangelischen Kirche sind, die solche Taten begünstigt oder ihre Aufklärung behindert haben, um aus den Ergebnissen lernen zu können und die Prävention zu stärken". Die nun veröffentlichten Ergebnisse seien erschütternd, zugleich gebe es wichtige Impulse für weitere Schritte.

Weiter bekannte Bedfod-Strohm, auch viel über seine eigene Rolle als früherer Ratsvorsitzender nachzudenken. Schon seit Beginn seiner Amtszeit als Landesbischof 2011 sei ihm das Thema sexualisierte Gewalt ein Herzensanliegen gewesen; auch sei er die ganze Zeit im Kontakt mit Betroffenen gewesen. Aus der Rückschau bedauert Bedford-Strohm nach eigenen Worten, "dass es uns nicht gelungen ist, unsere notwendigen internen Prozesse schneller auf den Weg zu bringen". Besonders zu schaffen mache ihm, wenn Betroffene berichteten, dass sie sich in der evangelischen Kirche oftmals nicht gesehen und gewürdigt gefühlt hätten.

Die frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann, appellierte an die Landeskirchen, alle Akten auszuwerten. Bei der Aufarbeitung müssten klare Strukturen geschaffen und auch Machtstrukturen hinterfragt werden, sagte sie im Deutschlandfunk. Auch müsse es eine Ombudsstelle außerhalb der Kirche geben, an die Betroffene sich wenden könnten. Die Theologin zeigte sich erschüttert über aus Ausmaß des Missbrauchs, aber auch über die Vertuschung. Sie habe immer gedacht, dass ihre Generation anders mit Missbrauch umgegangen und offen dagegen vorgegangen wäre. "Das stimmt nicht", räumte sie ein.

"Darf keine Rolle spielen, ob ein Betroffener aus Bayern oder der Nordkirche stammt"

Der Münchner Entwicklungspsychologie Heinz Kindler warnte unterdessen davor, die Aussagekraft der ermittelten Fallzahlen zu überschätzen. Sie spiegelten nicht die tatsächliche Zahl der Missbrauchsfälle wieder, sagte Kindler bei einer Fachtagung am Freitag in Hannover. Diese liege viel höher. Eine rund fünf Jahre alte Untersuchung des Kinder- und Jugendpsychiaters Jörg Fegert gehe von 144.000 Betroffenen im Raum der Kirchen in Deutschland aus. Fegert hatte zudem erklärt, dass er von ähnlichen Zahlen in katholischer und evangelischer Kirche ausgehe.

Kindler plädierte dafür, in zwei oder drei weiteren Landeskirchen systematische Personalaktenanalysen vorzunehmen, um diese geschätzten Zahlen zu validieren. Eine Analyse in allen Landeskirchen sei hingegen nicht nötig, so Kindler auf Nachfrage der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Weiter warb die pfälzische Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst für einen Kulturwandel in der evangelischen Kirche. "Ich glaube nicht, dass schon in jedem Winkel unserer Kirche das Bewusstsein dafür angekommen ist, dass Missbrauch ein zentrales Problem ist", so Wüst, die auch Missbrauchsbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist. Nach Ansicht von Wüst müssen in den Landeskirchen nun einheitliche Standards zum Umgang mit Missbrauch geschaffen werden. Dazu müsse nicht der binnenkirchliche Föderalismus abgeschafft werden. "Aber es darf keine Rolle spielen, ob ein Betroffener aus Bayern oder aus der Nordkirche stammt." (rom/KNA)

26.1., 17 Uhr: ergänzt um weitere Stimmen.