Im Recollectio-Haus waren auch Missbrauchstäter untergebracht

Priester-Therapeut Müller: "Zahlte hohen Preis für meinen Einsatz"

Veröffentlicht am 28.06.2024 um 00:01 Uhr – Von Madeleine Spendier – Lesedauer: 

Würzburg ‐ Der Theologe und Psychotherapeut Wunibald Müller leitete viele Jahre lang das Recollectio-Haus in Münsterschwarzach. In dieser kirchlichen Einrichtung wurden auch übergriffige Geistliche und Ordensleute behandelt. Wie Müller das erlebte, davon berichtet er im Interview mit katholisch.de.

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Als Therapeut ist er dem Thema sexueller Missbrauch schon früh begegnet, betont der Theologe Wunibald Müller. Von 1991 bis 2016 war er Leiter des Recollectio-Hauses der Abtei Münsterschwarzach. In dieser kirchlichen Einrichtung wurden nicht nur Burnout-gefährdete Priester behandelt, sondern auch Geistliche und Ordensleute, die des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen beschuldigt wurden. Wie der 73-jährige Psychotherapeut Wunibald Müller das im Rückblick erlebte und wie er persönlich damit umging, darüber spricht er im Interview mit katholisch.de. 

Frage: Herr Müller, erst kürzlich haben die Franziskaner-Minoriten eine Missbrauchsstudie vorgelegt, in der das Recollectio-Haus erwähnt wird. Dorthin wurden beschuldigte Priester und Ordensleute geschickt, um therapeutisch behandelt zu werden. Es schockiert mich, dass diese kirchliche Einrichtung ein Sammelbecken für übergriffige Priester und Ordensleute war…

Müller: Da kann ich Sie beruhigen. Es gab auch pädophile Priester und Ordensleute im Recollectio-Haus, es war aber kein Sammelbecken für übergriffige Priester und Ordensleute. Ich habe aber bereits in den 1990er Jahren in Aufsätzen und wissenschaftlichen Beiträgen auf das Riesenproblem des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche hingewiesen. Ich ging damals davon aus, dass mindestens zwei bis vier Prozent aller Priester in Deutschland Kinder oder Jugendliche missbrauchen. Als Therapeut bin ich dem Thema schon sehr früh begegnet. Dank meiner Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen in den USA, die sich mit dem Thema sexuellen Missbrauchs in der Kirche befassten, war ich über die neuesten Erkenntnisse informiert und habe die Aufarbeitung des Missbrauchsskandal dort mitverfolgt. Ich dachte erst, das darf alles nicht wahr sein. Mir war klar, dass wir in der deutschen Kirche ähnlich wie in Amerika von vielen Täterinnen und Tätern ausgehen müssen. Damals lernte ich auch, dass nur einer von 100 Tätern die Wahrheit sagt. Eine weiter schmerzliche Erfahrung, die ich damals machte, war auch, dass meine Hinweise, dass wir hier in der Kirche ein großes Problem haben, nicht wahrgenommen oder nicht ernstgenommen wurden. Ich erinnere mich noch gut an ein Interview im Spiegel mit dem Mainzer Kardinal Karl Lehmann, der konfrontiert mit meinen Zahlen von zwei bis vier Prozent aller Priester, die Minderjährige missbrauchen, meinte, dass wir uns in Deutschland den amerikanischen Schuh nicht anziehen müssten. Dazu kam, dass manche in mir einen Nestbeschmutzer sahen, weil ich auf Misstände in der Kirche hinwies, die man lieber weiter im Verborgenen halten wollte. Ich erinnere mich lebhaft an ein Treffen mit den Personalverantwortlichen der Diözesen, das mir wie ein Tribunal vorkam, bei dem ich der Beschuldigte war, weil ich öffentlich die Praxis kritisiert hatte, Täter weiterhin als Seelsorger einzusetzen.

Frage: Sie sagen also, Sie wurden damals nicht gehört?

Müller: Ja. Ich habe mit Verantwortlichen darüber gesprochen. Vor allem aber habe ich durch meine Veröffentlichungen und über zahlreiche Interviews auf die Situation hingewiesen. Ich war damals einer der wenigen, der sich mit dem Thema befasst hatte. Später wurden in der Deutschen Bischofskonferenz die Leitlinien für den Umgang mit Missbrauchstätern beschlossen, die dann für alle Bistümer gelten sollten. Etwa dass es in der Bischofskonferenz einen Ansprechpartner und in den Diözesen Ansprechpartner für Betroffene gibt oder dass Präventionsmaßnahmen aufgestellt werden. Das hatte ich damals alles mit angeregt. Da ich mich als Leiter des Recollectio-Hauses mit dem Thema sexueller Missbrauch aufgrund meiner Expertise, die ich mir vor allem durch meine US-amerikanischen Kontakte erworben hatte, öffentlich auseinandersetzte, entstand zuweilen der Eindruck: Dorthin kann man pädophile kirchliche Mitarbeiter schicken, dort wird was dagegen gemacht. Wir haben dann versucht, das zu tun, was uns möglich war.

Frage: Wie ging das genau vor sich? Wie kamen die beschuldigten Geistlichen zu Ihnen ins Recollectio-Haus?

Müller: Die wurden von den jeweils zuständigen Ordensoberen oder Personalverantwortlichen zu uns nach Münsterschwarzach geschickt. Es gab dann ein Vorgespräch. Manchmal war schon nach diesem ersten Gespräch klar, dass derjenige nicht bei uns begleitet beziehungsweise behandelt werden kann. Denn jemand, der pädophil veranlagt ist, kann in der Regel nicht geheilt werden in dem Sinne, dass er nicht mehr pädophil ist. Das Ziel einer Therapie ist in seinem Falle, seine pädophilen Impulse kontrollieren zu können. Dazu braucht es therapeutische Methoden, die im Recollectio-Haus nicht gegeben waren. Wir regten in anderen Fällen an, über die Verantwortlichen forensische Gutachten von externen Psychiatern anzufordern, um nachweisen zu können, ob jemand pädophil oder ephebophil veranlagt ist oder nicht und welche Form von Behandlung angezeigt ist. Auch sollten die Gutachter einschätzen, ob jemand und wenn ja, in welchem Bereich, weiterhin priesterlich oder seelsorglich eingesetzt werden kann. Wenn der Gutachter einen Aufenthalt im Recollectio-Haus empfahl, da sich herausstellte, dass der Betreffende nicht pädophil war, wurde ein solcher Aufenthalt ermöglicht.

Bild: ©Harald Oppitz/KNA

Das Recollectio-Haus ist nach eigenen Angaben eine Einrichtung der Abtei Münsterschwarzach, die Priestern, Diakonen, Ordensangehörigen und kirchlichen Mitarbeitenden in der Seelsorge die Möglichkeit geben möchte, sich körperlich, psychisch und geistlich-spirituell zu sammeln und für die pastorale Rolle und Aufgabe zu stärken.

Frage: Wie haben Sie die beschuldigten Missbrauchstäter, die zu Ihnen ins Recollectio-Haus geschickt wurden, therapeutisch behandelt?

Müller: Bei vielen Gesprächen mit Tätern handelte es sich um Klärungsgespräche, nicht um eine Behandlung. Bei diesen Erstkontakten gab es Täter, die eine Einsicht hatten, dass das, was sie Minderjährigen angetan haben, falsch und ein Fehler war und sie dem Kind etwas Schreckliches angetan haben. Da hatte ich das Gefühl, da will jemand an sich arbeiten, ist offen für eine Therapie. Bei anderen wiederum war keine Einsicht erkennbar. In ihrem Fall machte eine Therapie keinen Sinn. Wie ich anfangs erwähnte, war das Recollectio-Haus kein Sammelbecken für pädophile Priester. Manchmal weilten hier aber Priester, die beschuldigt wurden, Minderjährige missbraucht zu haben und in dieser Situation ein Ort gesucht wurde, an dem sie für eine bestimmte Zeit unter Kontrolle und mit Begleitung untergebracht werden konnten. In manchen Fällen ging es dabei auch um eine Krisenintervention, da für jene Priester die Entlarvung einem sozialen Tod gleichkam und sie suizidgefährdet waren. Dann gab es Klienten, bei denen im Laufe ihres Aufenthaltes im Recollectio-Haus klar wurde, dass sie möglicherweise eine pädophile Veranlagung haben. In diesem Fall wurden dann auch die Vorgesetzten miteingeschaltet. Immer wieder gab es Personen, die im Recollectio-Haus begleitet wurden, die sexuell übergriffig geworden sind, aber nicht pädophil waren. Bei ihnen ging es unter anderem darum, sie dabei zu unterstützen, sexuell reifer zu werden und verantwortungsvoll mit Nähe und Distanz umzugehen. Diese Personen waren sexuell unreif und hatten sich mit der eigenen Sexualität nicht realistisch auseinandergesetzt. Ein Grund dafür war bei manchen ein falsches Verständnis von Zölibat, wonach jemand, der zölibatär lebt, sich nicht mit seiner Sexualität auseinandersetzen muss. Das ist natürlich ein Trugschluss und kann dazu führen, dass die Sexualität unterentwickelt bleibt und entsprechend infantil damit umgegangen wird. Ich glaube, dass wir gerade diesen Personen durch einen Aufenthalt bei uns im Recollectio-Haus sehr helfen.

Frage: Hätten Sie sich im Einzelfall stärker dafür einsetzen sollen, dass einzelne Missbrauchstäter bestraft werden sollten?

Müller: Für die Bestrafung waren wir nicht zuständig. Aber es ist offensichtlich, dass es bei vielen dringend nötig gewesen wäre, sie aus der Seelsorge zu nehmen oder sie nicht mehr dort einzusetzen, oder sie zu laisieren oder zu inhaftieren. Aber es war und ist Sache der Verantwortlichen, die dafür nötigen Schritte zu unternehmen. Ich habe das immer wieder angemahnt, aber entscheiden mussten der Orden oder das Bistum, wie sie damit umgehen.

Frage: Haben Sie sich im Umgang mit beschuldigten Geistlichen dabei der Verschwiegenheit verpflichtet gefühlt?

Müller: Mein Beruf als Psychotherapeut obliegt der Schweigepflicht. Ich darf nichts über Einzelne an Dritte weitersagen – genau aus diesem Arbeitsethos heraus. Es sei denn, jemand könnte durch sein Verhalten andere potenziell gefährden. Das ist bei Missbrauch von Minderjährigen der Fall. Daher war es für mich klar, dass im Falle von Priestern, die Täter waren, wenn ich davon Kenntnis erhielt, die Verantwortlichen darüber informiert wurden.

Bild: ©katholisch.de/ Madeleine Spendier

"Es gab Täter, die ihre eigenen sexuellen Verbrechen verherrlicht haben, indem sie das, was sie anderen an Gewalt angetan haben, schönfärbten", sagt der Psychotherapeut und Theologe Wunibald Müller. "Bei sowas wurde mir schlecht."

Frage: Was hat Sie selbst im Gespräch mit Missbrauchstätern am meisten betroffen gemacht – Sie sind selbst Vater und Großvater?

Müller: Es gab Täter, die ihre eigenen sexuellen Verbrechen verherrlicht haben, indem sie das, was sie anderen an Gewalt angetan haben, schönfärbten. Sie beschrieben es so, als hätten sie sich da jemanden auserwählt, den sie in die Sexualität einführen konnten. Bei sowas wurde mir schlecht. Da kam ich an Grenzen, was meine Empathie ihnen gegenüber betrifft. Es ist unfassbar, wie hier ein schlimmes Verbrechen verharmlost wird. Wie sehr mir das, überhaupt das Ausmaß an sexualisierter Gewalt im Kontext der Kirche zugesetzt hat, ist mir erst Jahre später deutlich geworden. Als ich mir die amerikanische Fernsehdokumentation "Tag der Entscheidung" im Kino ansah und im Abspann die Namen der Täter aufgelistet wurden und es mir so vorkam, als nähme das kein Ende mehr – es waren Hunderte, konnte ich nur noch weinen.

Frage: Haben Sie im Recollectio-Haus auch Betroffene sexualisierter Gewalt therapeutisch begleitet?

Müller: Ja. Das hat mit einen Einblick verschafft, welch großer seelischer Schaden Opfern sexualisierter Gewalt angetan wird. Das Erschreckende ist, dass ich damals kaum einen Kirchenvertreter erlebt habe, der über die Betroffenen gesprochen hätte. Kaum einer war angerührt von ihrem Leid. Die meisten waren vor allem besorgt um das Ansehen der Kirche und wie ihre Priester schadlos gehalten werden konnten. Mich hat das Leid der betroffenen Kinder und Jugendlichen zutiefst berührt. In der Begegnung mit Opfern hörte ich den schmerzerfüllten Aufschrei Gottes angesichts solchen Leides und solcher Verbrechen. Ich bin froh, dass es heute bei vielen in der Kirche und bei denen, die dort Verantwortung haben, eine größere Sensibilität für das Thema gibt. Ein wenig haben ich und das Recollectio-Haus und mit ihm die Abtei Münsterschwarzach dazu beigetragen. Ich denke an eine Telefonat mit einem Generalvikar, der mich mit Vorwürfen überhäufte, mir Illoyalität gegenüber der Kirche unterstellte, da ich den Bischof dieser Diözese öffentlich kritisiert hatte, nachdem er einen pädophilen Priester wieder als Seelsorger eingesetzt hatte. Ich verbat mir diesen Ton und wies den Generalvikar in seine Schranken. Ich konnte das aber nur tun, weil ich wusste, dass mein Team und die Abtei Münsterscharzach hinter mir standen. Wäre ich "nur" ein kirchlicher Angestellter gewesen, hätte man mich weggefegt. Ich habe für meinen Einsatz einen hohen seelischen Preis gezahlt, da mich das Ausmaß an Herzlosigkeit und verbrecherischem Verhalten, das mir im Zusammenhang mit dem Missbrauch in der katholischen Kirche begegnete, mehr erschütterte als ich es wahrhaben wollte. Manchmal hatte ich gerade in den Anfangsjahren, als immer mehr ans Licht gelangte, was bisher im Dunkeln lag, den Eindruck, dass mir der ganze Mist vor der Tür abgeladen wird, weil niemand der Verantwortlichen bereit oder in der Lage war, sich damit ehrlich, verantwortungsvoll und kompetent auseinanderzusetzen. Würde ich mich auch heute noch auf den Spagat einlassen, als Leiter einer kirchlichen Einrichtung, auf der einen Seite auf Missstände aufmerksam zu machen, auf der anderen Seite einer Institution gegenüber loyal zu sein, die ich zunehmend als strukturell lieblos und herzlos erlebt habe? Ich weiß es nicht. Wenn aber doch, dann der Menschen und Gottes wegen.

Von Madeleine Spendier