Brief von Franziskus ruft zu realistischer Auseinandersetzung auf

Um die Wurzeln kümmern – Papst wirbt für Studium der Kirchengeschichte

Veröffentlicht am 29.11.2024 um 00:01 Uhr – Von Roland Juchem (KNA) – Lesedauer: 

Vatikanstadt ‐ In einem Brief über das Studium der Kirchengeschichte wirbt Papst Franziskus für mehr Quellenstudium, eine Sicht der Geschichte von unten und Vergebung. Und er wettert gegen jene, die meinen, heute alles besser zu wissen. Ein Blick in das Schreiben.

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Wenn Papst Franziskus mit jüngeren Menschen spricht, verwendet er gerne das Bild eines Baumes. Sie, die Jungen, seien die knospenden Äste, ihre Großeltern und Vorfahren aber die Wurzeln. Aus diesen bezögen sie Kraft zum Wachsen. Wer sie abschneide, drohe zu verdorren oder umzukippen. In diesem Sinn hat Franziskus vergangene Woche Donnerstag einen Brief zum Studium der Geschichte veröffentlicht. Darin wirbt das Kirchenoberhaupt für eine sensible und realistische Auseinandersetzung mit der Kirchengeschichte.

"Die Geschichte der Kirche hilft uns, einen Blick auf die wirkliche Kirche zu werfen, um jene Kirche lieben zu können, die tatsächlich existiert und die aus ihren Fehlern und Niederlagen gelernt hat und weiter lernt." Ihr Studium schütze vor einer "allzu engelsgleichen Vorstellung (...) von einer Kirche, die nicht real ist, weil sie keine Flecken und Falten hat". Entsprechend sei Geschichtswissen auch nötig, um eine überbordende oder allzu abstrakte Dogmatik und systematische Theologie einzuhegen.

Beispiel Traditionalismus

Als ein Beispiel dafür nannte der italienische Historiker Andrea Riccardi bei der Vorstellung des Briefes vor Medienvertretern den katholischen Traditionalismus. Dieser bestehe in einer "Ablehnung von Geschichte und Fixierung auf ein Modell von Kirche, wie sie in einer anscheinend absoluten Periode der Geschichte war: unübertrefflich und für die Zukunft ständig wiederholbar".

Auch Emanuela Prinzivalli forderte bei der Vorstellung eine stärker differenzierte und relativierende Sicht der "Geschichte der Christen". Dies gelte sowohl für die Treue zum Evangelium Jesu wie auch für den Verrat daran, so die Historikerin der Sapienza-Universität in Rom. Schließlich habe Jesus auf der Seite der Besiegten gestanden, nicht auf der Seite der Sieger. "Seine Verkündigung des Reiches Gottes beinhaltet eine Anfechtung der Gegenwart, was (...) jede triumphalistische Lesart der Geschichte der Kirche vermeiden muss."

Andererseits wendet sich Franziskus gegen Geschichtsinterpretationen allein anhand heutiger Maßstäbe: "Man nimmt das Vordringen einer Art von 'Dekonstruktivismus' in der Kultur wahr, bei dem die menschliche Freiheit vorgibt, alles von Neuem aufzubauen." Dies sei eine "schreckliche Einstellung, die uns dazu bringt, die Wirklichkeit nur aus der triumphalistischen Verteidigung der eigenen Funktion oder Rolle her zu verstehen".

Andrea Riccardi im Porträt
Bild: ©KNA (Archivbild)

Der katholische Traditionalismus bestehe in einer "Ablehnung von Geschichte", sagte der italienische Historiker Andrea Riccardi bei der Vorstellung des Briefs.

Angesichts wachsender Tendenzen, "auf Erinnerung zu verzichten oder eine auf die Bedürfnisse der herrschenden Ideologien zugeschnittene Erinnerung zu konstruieren, ist eine größere historische Sensibilität dringend erforderlich". Historische Sensibilität, so der Papst, "hilft uns allen, einen Sinn für Proportionen zu haben, ein Gefühl für das Maß und die Fähigkeit, die Wirklichkeit ohne gefährliche und gegenstandslose Abstraktionen zu verstehen, so wie sie ist und nicht wie man sie sich vorstellt oder gerne hätte".

Sensibilität, wie Franziskus sie immer wieder anmahnt, nimmt auch Grautöne, unterschiedliche Schattierungen und Kontexte wahr. Der von ihm hier weder spezifizierte noch belegte Vorwurf des "Dekonstruktivismus" erinnert an einen Vorwurf, die den Papst etwa bei seiner Kanada-Reise 2022 begleitete: Die Kirche habe mit ihrer "doctrine of discovery" koloniale Eroberungen der Europäer legitimiert. Zwar bestreitet Franziskus nicht Versagen und Verbrechen von Kirchenvertretern, wiederholt hat er sich aber gegen eine "cancel culture" gewandt, die aus dem historischem Dekonstruktivismus hervorgeht. "Etwas aus dem Zusammenhang Gerissenes dient bloß als Vorwand", zitiert Franziskus eine nicht näher belegte Redewendung.

Schreiben aus der Spätzeit des Pontifikats

Apropos Belege: In dem viereinhalb Seiten langen Schreiben zitiert Franziskus nur sich selbst und vier Mal das Zweite Vaticanum. Insofern sei es typisch für ein Schreiben in der Spätzeit eines Pontifikats, meint der Augsburger Kirchenhistoriker Jörg Ernesti im Gespräch mit der KNA. So etwas sei auch bei Johannes Paul II. und anderen Päpsten zu beobachten gewesen. Dabei hätte Franziskus gut auf Amtsvorgänger verweisen können, die Historiker waren.

Pius XI. (1922-1939) etwa oder schon vorher Leo XIII. (1878-1903), der mit der Aussage "Gott hat unsere Lügen nicht nötig" 1881 die Öffnung des Vatikan-Archivs für Wissenschaftler anordnete. Auch der Konzilspapst Johannes XXIII. war Historiker; in seiner Eröffnungsansprache beschrieb er die Rolle der Geschichte für die Erneuerung der Kirche. Riccardi macht denn bei der nachkonziliaren Kirche auch eine Wende zu Geschichte aus. Das 2. Vatikanische Konzil stelle "eine Abkehr von einem allgemeinen und etablierten Misstrauen gegenüber der Geschichte dar".

Franziskus' Anliegen, für ein gründliches, an Quellen orientiertes Geschichtsstudium zu werben, teilt Historiker Ernesti. Die in dem Schreiben verschiedentlich geäußerte pauschale Kritik an seiner Zunft weist er indes zurück – zumindest für den deutschsprachigen Raum. Ebenso pauschal in dem Brief seien Verweise auf die Schatten der Kirchengeschichte. "Franziskus spricht nicht vom Versagen im Namen der Kirche und durch die Kirche", so Ernesti. Sexueller Missbrauch, das "vermeintliche Schweigen" der Kirche zum Holocaust, Kreuzzüge, Hexenverfolgung und anderes würden nicht erwähnt.

 Jörg Ernesti
Bild: ©Christopher Beschnitt/KNA (Archivbild)

Der Augsburger Kirchenhistoriker Jörg Ernesti Teilt das Anliegen, für ein gründliches Geschichtsstudium zu werben. Doch manches vermisst er im Brief.

Leider, so Ernesti, verweise der Papst nicht auf das große Schuldbekenntnis der katholischen Kirche unter Johannes Paul II. im Jahr 2000. Dort habe es konkretere Aussagen gegeben, wie auch in Franziskus' eigener Enzyklika "Fratelli tutti" von 2020. Sein Verweis etwa, die Kirche wisse, "wie groß der Abstand ist zwischen der von ihr verkündeten Botschaft und der menschlichen Armseligkeit derer, denen das Evangelium anvertraut ist", sei schlicht zu unkonkret.

Hingegen besteht Franziskus sehr darauf, dass die Schoah nicht vergessen werden dürfe, die Atombombenangriffe von Hiroshima und Nagasaki, der Sklavenhandel und ethnische Säuberungen in verschiedenen Ländern "und so viele andere historische Ereignisse, für die wir uns schämen, Menschen zu sein."

Auf den Spuren der stumm Gehaltenen

Gleichzeitig wirbt Franziskus dafür, sich im auf die Spuren derjenigen zu machen, "die sich im Laufe der Jahrhunderte kein Gehör verschaffen konnten". Gerade für Kirchenhistoriker müsse es "ein vorrangiges Forschungsgebiet" sein, "das gewöhnliche Gesicht der Letzten so weit wie möglich ans Licht zu bringen und die Geschichte ihrer Niederlagen und der Unterdrückung, die sie erlitten haben". Damit ließen sich auch "heutige Phänomene der Marginalisierung und Ausgrenzung" besser verstehen. Im Übrigen tue es gut, sich auch an das Gute zu erinnern.

Vergebung beinhalte nicht Vergessen. "Auch wenn es Dinge gibt, die niemals toleriert, gerechtfertigt oder entschuldigt werden sollten, können wir dennoch verzeihen", wirbt Franziskus. Oder wie die Historikerin Prinzivalli es formulierte: "Die Kenntnis der Geschichte mit ihren Licht- und Schattenseiten trägt dazu bei, ein Gefühl der Toleranz, ich würde sagen: der Pietas gegenüber den Fehlern aller zu entwickeln."

Auch wenn das Schreiben zunächst an Priesterkandidaten gerichtet ist und unter anderem vom Präfekten des Klerus-Dikasteriums, dem südkoreanischen Kardinal Lazarus You Heung-sik, vorgestellt wurde, gilt es der "Ausbildung (...) auch anderer pastoraler Mitarbeiter", wie der Papst eingangs schreibt.

Von Roland Juchem (KNA)