Kirchenrechtlerin über Abt: Vatikanische Rüge ist kein Freispruch
Der vom Vatikan gerügte Abt von Saint-Maurice kann sich nach Auffassung einer Expertin nicht als freigesprochen betrachten. Das erklärte Kirchenrechtsprofessorin Astrid Kaptijn am Mittwoch dem Berner "Pfarrblatt". "Eine kanonische Rüge ist kein Freispruch. Das Verhalten wird als moralisch unangemessen und sogar als rechtswidrig qualifiziert" stellte sie klar.
Nach Belästigungsvorwürfen hatte Jean Scarcella (73), Abt der traditionsreichen Schweizer Abtei Saint-Maurice (Foto oben), sein Amt für 18 Monate ruhen lassen. Im März war er nach einer Rüge aus Rom in sein Amt zurückgekehrt. In einem Interview mit der Westschweizer Zeitung "Le Nouvelliste" hatte Scarcella am Dienstag seine Unschuld betont. Die römische Rüge verglich er darin mit einem Freispruch. Sie sei eine Besonderheit des Kirchenrechts, die man außerhalb der Kirche nicht verstehe. Die Ermahnung sei eine präventive Maßnahme: "Obwohl der Fehler nicht nachgewiesen ist, sagt die Kirche, dass er, wenn es ihn gegeben hätte, nicht mehr vorkommen sollte." Kaptijn erklärte, es gebe im Kirchenrecht drei Formen der Rüge: "Einerseits gibt es die monitio, zu Deutsch etwa: Verwarnung. Anderseits die correptio, einen Verweis oder Tadel, der aber nicht mit der correctio zu verwechseln ist."
Verweise kommen ins Geheimarchiv
Während eine Verwarnung vorbeugende Funktion habe, sei ein Verweis die strengere Form der Verwarnung: "Bei einem Verweis wird das Verhalten einer Person ausdrücklich missbilligt – unabhängig davon, ob es sich um eine Straftat handelt. Das Verhalten, das zu einem Verweis führt, ist zwar kirchenrechtlich nicht strafbar, aber es ist rechtswidrig und könnte zur Nachahmung einladen", sagte Kaptijn. Laut Pressemitteilung der Abtei Saint-Maurice habe Scarcella einen solchen Verweis erhalten. Der Verweis sei kirchenrechtlich so relevant, dass er im Geheimarchiv aufbewahrt werden müsse. "Sollte es zu einer Wiederholung des Fehlverhaltens kommen, ist der Verweis ein gewichtiger Faktor, der zu strengeren Maßnahmen führen kann", ergänzte die Kirchenrechtlerin.
Scarcella wurde vorgeworfen, sich einem Jugendlichen gegenüber übergriffig verhalten zu haben. Die Staatsanwaltschaft im Kanton Wallis stellte nach Ermittlungen alle angezeigten Fälle wegen Vorwürfen von sexuellem Missbrauch gegen Angehörige der Abtei ein. In den meisten Fällen seien die Gründe dafür Verjährung oder die Unmöglichkeit, den Sachverhalt zu belegen. Dies sei auch bei Scarcella der Fall.
Das Verhalten Scarcellas sei dennoch zu verurteilen, entschied damals das vatikanische Dikasterium für die Bischöfe unter Leitung von Kardinal Robert Francis Prevost. Denn es demonstriere eine Haltung, "die nicht der Vorsicht entspricht, die von Klerikern in zwischenmenschlichen Beziehungen erwartet wird". Im Oktober rügte der Vatikan Scarcella für unangemessenes Verhalten einem jungen Mann gegenüber. Gleichzeitig erklärte das zuständige Bischofsdikasterium aber, es gebe "keine Beweise für Missbrauch oder Belästigung im eigentlichen Sinn". – Die im 6. Jahrhundert gegründete Abtei Saint-Maurice gilt als ältestes Kloster des Abendlandes, das ohne Unterbrechung besteht. Sie untersteht unmittelbar dem Papst. (KNA)