Was katholische Sozialverbände heute politisch bewirken können

Kolping-Vorsitzende: Die Nöte der Zeit erkennen bleibt unser Auftrag

Veröffentlicht am 24.05.2025 um 00:01 Uhr – Von Felix Neumann – Lesedauer: 

Köln/Mainz ‐ Das Kolpingwerk feiert seinen 175. Geburtstag. Aus drei Gesellenvereinen ist eine weltweite Bewegung geworden. Warum ein engagierter Priester aus dem 19. Jahrhundert heute noch Menschen inspiriert, erzählt Kolping-Vorsitzende Ursula Groden-Kranich im Interview.

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Vor 175 Jahren schlossen sich drei Gesellenvereine auf Anregung des Priesters Adolph Kolping hin zum "Rheinischen Gesellenbund" zusammen – es sollte der Beginn eines der bis heute bedeutendsten katholischen Sozialverbände sein. Wie aktuell sind die Ideen Adolph Kolpings heute noch? Und wie gestalten Kolping-Mitglieder heute die Gesellschaft mit? Im Interview mit katholisch.de betont die Kolping-Bundesvorsitzende Ursula Groden-Kranich die Bedeutung, die Kolpingfamilien heute noch für Politik und Gesellschaft haben – und warum sie Julia Klöckners Kritik an der Kirche etwas abgewinnen kann.

Frage: Frau Groden-Kranich, viele große gesellschaftliche Organisationen stehen heute vor großen Herausforderungen: Parteien, Gewerkschaften, Verbände und auch die Kirchen. Immer weniger Menschen wollen sich langfristig binden und engagieren. Wie sieht das im Kolpingwerk aus?

Groden-Kranich: Das geht leider auch nicht spurlos an uns vorbei. Die Altersstruktur ist bei Kolping wie bei vielen anderen Verbänden. Aber es gibt auch viele junge Menschen und junge Familien, die gerne Mitglied sind. Die Kolpingjugend verzeichnet derzeit sogar eine leichte Zunahme ihrer Mitglieder.

Frage: Adolph Kolping hat vor 175 Jahren eine Organisationsform gefunden, die in diese Zeit gepasst hat. Was ist heute eine Organisationsform, die zu unserer Zeit passt?

Groden-Kranich: Die Kolpingfamilie ist immer noch eine sehr gute Organisationsform für unsere grundlegenden Organisationseinheiten. Ich frage mich aber, ob die bürokratischen Auflagen für Vereine vor Ort heute noch angemessen sind.

Frage: Was meinen Sie damit?

Groden-Kranich: Das Vereinsrecht legt viele Regularien fest. Menschen suchen in erster Linie Gemeinschaft, sie wollen nicht unbedingt Mitgliederversammlungen veranstalten, einen Vorstand wählen, Rechenschaftsberichte abgeben und entgegennehmen und so weiter. Diese Formalia belasten gerade älter werdende Strukturen. Wir haben aber zum Glück auf Diözesan- und Bundesebene viel Erfahrung damit, wie wir die Kolpingfamilien dabei unterstützen können.

Ursula Groden-Kranich beim Kolpingjubiläum 2025
Bild: ©Kolpingwerk Deutschland

Ursula Groden-Kranich (59) ist seit 2018 Bundesvorsitzende des Kolpingwerks Deutschland. Die gelernte Bankkauffrau war von 2013 bis 2021 und für einige Wochen Anfang 2025 Mitglied des Deutschen Bundestags. Bei der vergangenen Bundestagswahl gewann sie ihren Wahlkreis, konnte aber wegen des geänderten Wahlrechts nicht in den Bundestag einziehen.

Frage: Wichtiger als Strukturen sind Inhalte. Was bewegt das Kolpingwerk heute?

Groden-Kranich: Interessanterweise etwas, das schon Adolph Kolping mit seinen Gesellenhäusern bewegt hat. Diese Idee ist heute so aktuell wie damals. Unsere Jugendwohnen-Angebote werden heute so stark nachgefragt, wie wir uns das vor Jahren gar nicht hätten vorstellen können. Das hängt natürlich mit der Wohnungsnot zusammen, wichtiger ist aber, dass Wohnen bei Kolping eben mehr ist als nur Wohnen. Es gibt eine pädagogische Begleitung, junge Menschen erleben dort Gemeinschaft. Dazu kommt der Bildungsbereich, der für Kolping immer wichtig war und heute nicht nur im Jugendwohnen, sondern in den zahlreichen Kolping-Bildungswerken lebendig ist. Kennzeichnend ist ein ganzheitlicher Blick auf Menschen. Wir vermitteln nicht nur Wohnungen oder Wissen, wir kümmern uns um den ganzen Menschen.

Frage: Früher waren katholische Sozialverbände ein wichtiger Ort der politischen Sozialisation und oft der Startpunkt politischer Karrieren. Ist das heute auch noch so?

Groden-Kranich: Die Sozialverbände haben schon immer klar Position bezogen. Wir haben immer noch den Anspruch, uns politisch, auch kirchenpolitisch, zu äußern. Heute ist die Frage eher: Wie eng dürfen Sozialverbände und Politik verwoben sein?

Frage: Es ist also gar nicht so schlimm, dass heute nicht mehr so viele Abgeordnete Kolpingbrüder und -schwestern sind wie früher einmal?

Groden-Kranich: Das habe ich nicht gesagt. Wir haben ja immer noch viele Kolpinggeschwister in den Parlamenten. Die Debatten werden heute aber härter geführt, die Erwartungen an Politik verändern sich. Abgeordnete vom Bundestag bis in die Stadträte, die sich in Sozialverbänden engagieren, tragen ihr Engagement auf zwei Schultern, und da gilt es immer abzuwägen zwischen Verbands- und Parteiposition und man kann nicht verlangen, dass eine Seite sich absolut durchsetzt. Abwägen war immer das Wesen der Demokratie, das haben wir vielleicht etwas verlernt in der jüngeren Vergangenheit. Für uns in den Sozialverbänden ist es gut, Verbindungen in die Politik zu haben, um politische Debatten mitgestalten zu können und Impulse zu geben.

Frage: Früher bestanden diese Verbindungen vor allem zu den Unionsparteien, heute sind katholische Verbände auch parteipolitisch diverser geworden. Wie gut ist das Verhältnis zur Union noch? Man könnte den Eindruck gewinnen, dass es etwas erkaltet ist.

Groden-Kranich: Das erlebe ich auf allen Ebenen sehr differenziert. Mich ärgert es, wenn manchmal in politischen Debatten nur einzelne Aspekte des Christlichen herausgepickt werden. Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus meiner Zeit im Bundestag, als ich nach Gregor Gysi von den Linken gesprochen habe. Er hatte die Bibel angeführt. Linke zitieren immer wieder gerne die Bibel, wenn es passt. Aber wenn auf kommunaler Ebene ein städtisches Grundstück an die katholische Kirche verkauft werden soll, um dort eine Kita zu bauen, dann stimmen die Linken grundsätzlich dagegen, allein weil es die Kirche ist, anstatt im Blick zu haben, was solche Entscheidungen für das Gemeinwohl bedeuten. Diesen Blick aufs Ganze sehe ich zum einen immer noch bei den Unionsparteien, und zum anderen bei den Abgeordneten, die Verbindung zur Kirche und zu den Sozialverbänden haben.

Frage: Aber eine Kaderschmiede für Abgeordnete sind die Sozialverbände nicht mehr, oder?

Groden-Kranich: Muss das der Anspruch sein? In unserem Verband und vor allem in der Kolpingjugend lernen unsere Mitglieder von der Pieke auf demokratische Spielregeln. Das ist ein ganz wichtiges Handwerkszeug, um die Politik mitzugestalten und die Demokratie zu stärken. Man kann nicht einfach einer Gesellschaft von oben Demokratie aufstülpen, es braucht die Menschen, die demokratisch geprägt sind und Demokratie leben. Das lernen nicht nur junge Menschen in katholischen Verbänden.

Junge Kolpinggeschwister mit Fahnen am Rheinufer gegenüber dem Kölner Dom
Bild: ©Kolpingwerk Deutschland

Bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen kann das Kolpingwerk sogar leichte Mitgliederzuwächse verzeichnen.

Frage: Bundestagspräsidentin Julia Klöckner hat in mehreren Interviews die Kirche aufgefordert, sich auf ihr tatsächliches oder vermeintliches Kerngeschäft zu konzentrieren. Frau Groden-Kranich, was entgegnen Sie Ihrer Parteifreundin?

Groden-Kranich: Ich teile den Ansatz von Frau Klöckner nicht komplett, ich verstehe aber ihren Punkt. In meiner Zeit im Bundestag habe ich mir oft gewünscht, auch einmal Unterstützung aus der Kirche zu erfahren und nicht nur Kritik, wenn politische Notwendigkeiten dazu führten, dass Dinge nicht so gelaufen sind, wie man sich das in der Kirche vorstellt. Daher kann ich ein gewisses Maß an Unzufriedenheit mit kirchlichen Beiträgen zur Politik nachvollziehen. Auf dem Evangelischen Kirchentag hat Julia Klöckner davon gesprochen, dass die Kirche keine NGO ist. Und damit hat sie recht. Die Kirche muss sich schon genau überlegen, was ihr Markenkern ist und wie sie ihn lebt. Die Kirche zieht sich aus finanziellen Gründen an vielen Stellen aus ihrer sozialen Verantwortung zurück, etwa bei der Trägerschaft von Kitas. Gleichzeitig erhebt sie soziale Forderungen an die Politik.

Frage: Und die Kritik an der Nähe zu den Menschen?

Groden-Kranich: Innerhalb der Kirche gibt es ein Missverhältnis zwischen Strukturfragen und Seelsorge. Wir beschäftigen uns in der Kirche viel damit, wie Pfarreien neu strukturiert werden und wie man immer weniger Priester auf immer größere Einheiten verteilt. Vor lauter Organisation scheint mir das Seelsorgerische manchmal auf der Strecke zu bleiben. Die Ressourcen gehen zurück, das stimmt. Deshalb müssen wir uns über die Kirche und ihren Auftrag insgesamt unterhalten: Was ist eigentlich die Kernaufgabe der Kirche in unserer Gesellschaft und welchen Gegenpol kann sie damit darstellen? Welche Stabilität kann sie damit in so unsicheren und heftigen Zeiten bieten, die die Politik möglicherweise nicht bieten kann?

Frage: Wie antworten Sie auf Ihre eigene Frage? Was ist die Kernaufgabe der Kirche?

Groden-Kranich: In allererster Linie Seelsorge – breit verstanden als Hinwendung zu den Menschen mit ihren Sorgen und Nöten. In unserem neuen Kolping-Lied haben wir die Zeile "Zufluchtsort für jeden, der da kommen mag". Das ist so ein wunderbarer Satz, den wir uns als Verband auf die Fahnen geschrieben haben, der aber auch für die Kirche als Ganzes gelten sollte.

Frage: Und die Sozialverbände? Wie sollen die es mit der Politik halten?

Groden-Kranich: Die können und dürfen politischer sein. Als katholische Sozialverbände stehen wir aber klar für einen übergreifenden Ansatz, nicht für ein Gegeneinander um seiner selbst willen. Wir engagieren uns gemäß den Prinzipien der katholischen Soziallehre, indem wir uns bei unserem politischen Engagement für die unveräußerlichen Würde jedes Menschen, für Hilfe zur Selbsthilfe und für Solidarität mit Menschen einsetzen, die unserer Unterstützung bedürfen. In diesem Sinne wirkt Kolping auch als anerkannte Arbeitnehmerorganisation: Wir treten bei den Sozialwahlen auf der Seite der Versicherten an. Schon bei den ersten Gesellenvereinen war aber klar, dass es ein Miteinander braucht: Der Meister braucht die Gesellen und Lehrlinge, und umgekehrt. Dieses Miteinander macht uns stark und prägt unsere sozialpolitischen Positionen.

Frage: Wie stark sind Sie damit noch in der Gesellschaft verwurzelt? Kolpingmitglieder treten bei der Sozialwahl an, aber die Wahlergebnisse der christlichen ACA-Listen sind nicht die besten.

Groden-Kranich: Die Sozialwahlen sind ein ganz eigenes Thema, ich denke, da hängt auch viel mit der öffentlichen Wahrnehmung zusammen: Wer kann mit dem System unserer Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger etwas anfangen? Wer weiß, dass hinter unserem Kürzel "ACA" eine "Arbeitsgemeinschaft Christlicher Arbeitnehmerorganisationen" steckt und wofür wir damit stehen? Ich sehe aber darüber hinaus immer noch viele Kolpinggeschwister, die sich in Gremien und Organisationen wie Handwerkskammern engagieren. Richtig ist: Wir – und auch die anderen Beteiligten – müssen sicher noch stärker deutlich machen, welche Relevanz die Sozialwahlen haben und welche Kompetenz wir als Kolping hier einbringen können.

Statue von Adolph Kolping
Bild: ©Kolpingwerk Deutschland

Die Statue von Adolph Kolping in Köln hat schon Grünspan angesetzt – nach der Seligsprechung 1991 stockte der Prozess. Ein Grund ist die Klärung seiner für seine Zeit typischen Einstellungen zum Judentum, ein anderer ein noch fehlendes Wunder auf seine Fürsprache.

Frage: Ihr Verband trägt den Namen seines Gründers. Adolph Kolping wurde 1991 seliggesprochen – die Heiligsprechung steht aber noch aus. Woran liegt es?

Groden-Kranich: Wir befassen uns mit Adolph Kolping und begreifen ihn als einen Menschen, dessen Vorstellungen im Spiegel seiner Zeit zu betrachten sind. Vor allem seine Hinwendung zu den Menschen in sozialer Not wirkt bis heute nach. Derzeit arbeiten wir an der gesamtheitlichen Aufarbeitung seines Lebens und Wirkens. Auch der Nachweis eines Wunders wird derzeit geprüft. Dabei spielt für uns in Deutschland die Heiligsprechung keine so große Rolle. Es würde der internationalen Kolpingsfamilie aber großen Auftrieb geben, wenn sie sich auf einen Heiligen berufen könnte.

Frage: Woran liegt das? Was hat Adolph Kolping, der Priester aus dem 19. Jahrhundert, den Menschen von heute zu sagen?

Groden-Kranich: Sehr viel! "Mut tut gut" ist eines seiner schönsten Worte, die heute noch gelten. "Man muss sein Herz zum Pfand geben" ist ein weiteres. Das gehört zusammen: Mutig handeln, den Menschen zugewandt. "Ich zuerst", dafür stand Kolping nie. Es ist kein Zufall, dass die Kolpingfamilien die Basis unseres Verbands sind, weil man in Familien generationenübergreifend Verantwortung füreinander übernimmt. Kolpings Antrieb war, die Nöte der Zeit zu erkennen, und deshalb ist seine Botschaft heute wie vor 175 Jahren aktuell.

Von Felix Neumann