"Sichtbarkeit ist nicht mehr das große Problem"

Queere Katholikin: Diese Kirche ist meine Heimat

Veröffentlicht am 21.06.2025 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 

Bonn ‐ Lesbisch und katholisch sein – da gibt es auch heute noch Spannungsfelder, sagt die Religionslehrerin und Aktivistin Mirjam Gräve im katholisch.de-Interview. Mit ihrer Ehefrau hat sie deshalb besondere Entscheidungen getroffen.

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Im Juni, dem "Pride Month", setzen sich queere Menschen in vielen Ländern für Vielfalt und Sichtbarkeit ein. Drei Jahre nach Beginn der Initiative "OutInChurch", bei der sich Menschen aus der Kirche als queer bekannten, stellt sich die Frage: Wie steht es mittlerweile um die Akzeptanz in der Kirche? Mirjam Gräve (48) ist Lehrerin für katholische Religion und Pädagogik an einer Schule in Bonn, gemeinsam mit ihrer Ehefrau hat sie einen zweieinhalbjährigen Sohn. Sie war Teil von "OutInChurch" und engagiert sich darüber hinaus als Sprecherin des "Netzwerks katholischer Lesben". Im Interview spricht sie über gesellschaftliche Dynamiken, kirchliche Stillstände – und ihre persönlichen Konsequenzen.

Frage: Frau Gräve, drei Jahre sind seit "OutInChurch" vergangen, im "Pride Month" Juni jedes Jahr zeigen sich queere Menschen in ihrer ganzen Vielfalt. Wie ist es denn in der Kirche: Können Sie da mittlerweile ganz Sie selbst, können Sie "stolz" sein?

Gräve: Stolz bin ich auf jeden Fall auf "OutInChurch" und das, was sich dadurch in Bewegung gesetzt hat. Wichtig ist mir aber: Queere Christinnen und Christen haben sich schon vorher engagiert. Ich selbst bin seit Jahren im Netzwerk katholischer Lesben aktiv. Mein Coming Out ist schon deutlich länger her als drei Jahre. Ich kann auf viele Errungenschaften homosexueller Menschen in der Kirche stolz sein, wir zeigen uns und bringen uns ein. Worauf ich aber nicht stolz bin, ist meine Homosexualität an sich, denn die habe ich von Geburt an. Das ist mein Geschenk Gottes. Dafür würde ich den Begriff des Stolzes nicht verwenden.

Frage: Können Sie denn ganz Sie selbst sein in der Kirche?

Gräve: Da erlebe ich einen Wandel. Als Netzwerk katholischer Lesben haben wir etwa auf dem Katholikentag immer einen Stand – und da merken wir, dass die Akzeptanz in den vergangenen Jahren größer geworden ist. Ein schnelles Vorbeigehen, vielleicht mit einem Kommentar gibt es zwar noch, aber weniger als früher. Dafür kommen viel mehr Menschen zu uns, die explizit sagen: Gut, dass ihr hier seid. Diesen Wandel nehme ich auch in vielen Gemeinden wahr: Sichtbarkeit ist da nicht mehr das große Problem. Dieser Eindruck ändert sich, je höher man in der kirchlichen Hierarchie geht – da gibt es durchaus noch Vorbehalte. Außerdem gibt es konservative Gruppen in der Kirche, die Homosexualität immer noch ablehnen. Mit denen komme ich in meinem Alltag aber nicht in Kontakt – wir leben da einfach in anderen Blasen.

Frage: Was hat sich in den drei Jahren seit "OutInChurch" für Sie persönlich verändert?

Gräve: Ich hätte nie damit gerechnet, dass es ein so großes öffentliches Interesse gibt. Es gab viele Anfragen an mich, denn anfangs waren sich viele Teilnehmende noch sehr unsicher, ob sie mit der Öffentlichkeit sprechen sollten. Ich war also auf einmal im Fernsehen – das hatte ich unterschätzt. Denn für mich war schon lange klar, dass ich in der Kirche sichtbar bin und kein Doppelleben führe. Die Menschen auf beiden Seiten des Lehrerpults wussten das schon lange von mir. Nach dem Dokumentarfilm, der zu "OutInChurch" ausgestrahlt wurde, haben mir dann Menschen aus der Jugendarbeit geschrieben, mit denen ich schon lange keinen Kontakt mehr hatte. Daneben gibt es ganz handfeste Änderungen durch "OutInChurch", etwa beim Arbeitsrecht. Da hat der Druck der Öffentlichkeit tatsächlich zur Änderung der Grundordnung und des Arbeits-Unrechts dort geführt. Von allein hätte sich die Kirche nicht bewegt.

„Die Diskriminierungen sind da – auch in den Köpfen der Menschen.“

—  Zitat: Mirjam Gräve

Frage: Wenn Sie sich die Basis und das Lehramt mal zusammen anschauen – würden Sie da auch im Jahr 2025 noch sagen: Lesbe und Katholikin, da gibt es Reibungspunkte und Widersprüche?

Gräve: Da würde ich nicht "Nein" sagen. Im persönlichen Kontakt – auch mit Bischöfen – erfahre ich, dass sie mich und meine Lebensform voll akzeptieren. Aber der Katechismus wurde bislang nicht verändert und das ist auch nicht in Sicht. Da wird mir immer noch Keuschheit auferlegt. Die Diskriminierungen sind da – auch in den Köpfen der Menschen. Angesichts des Rechtsrucks in der Gesellschaft wachsen auch meine Sorgen. Denn in manchen, auch europäischen Ländern sind Bischöfe an der zunehmenden Ausgrenzung queerer Menschen aktiv beteiligt. Hier in Deutschland grenzt sich die Kirche glücklicherweise klar gegen die AfD ab. Aber bei innerkirchlichen Diskursen würde ich mir da eine mutigere Linie wünschen – etwa mit einem klaren Wunsch an Rom, den Katechismus zu ändern. Oder das vom Synodalen Ausschuss erarbeitete Papier für Segensfeiern nicht als End-, sondern als Startpunkt zu sehen. Da würde ich mir mehr Tempo wünschen.

Frage: Wie erleben Sie denn persönlich das Leben in der Kirche als lesbische Frau?

Gräve: Im persönlichen Kontakt ist das oft kein Thema. Mit Blick auf die kirchliche Hierarchie haben meine Frau und ich einige Entscheidungen getroffen, sodass manche Themen für uns nicht relevant sind. Wir werden etwa nicht um einen Segen für unsere Ehe anfragen, denn wir sind keine Bittstellerinnen – unsere Liebe ist bereits von Gott gesegnet und wir schenken einander Segen. Das ist bei Eheleuten so. Von einer Pfarrei dann bei einer Anfrage auch mit einer Ablehnung rechnen zu müssen – das wollen wir nicht. Außerdem haben wir lange überlegt, ob wir unseren zweieinhalbjährigen Sohn katholisch taufen lassen. Am Ende haben wir uns dagegen entschieden, weil wir ihn in dieses System nicht einfügen wollten. Er ist nun altkatholisch getauft und damit in einem Umfeld völliger Akzeptanz, in dem die äußeren Strukturen auch zu den inneren passen. Das ist bei unserer Kirche nicht so: Im Erzbistum Köln gab es nach den "Liebe gewinnt"-Gottesdiensten 2021 Sanktionen für diejenigen, die diese Gottesdienste gefeiert haben.

Frage: Wäre es da nicht ein naheliegender Schritt, auch selbst altkatholisch zu werden?

Gräve: Meine Frau ist Religionspädagogin bei der Caritas, ich bin katholische Religionslehrerin. Wir beide blicken auf eine klassisch katholische Sozialisation zurück. Diese Kirche ist unsere Heimat, die wir nicht aufgeben wollen. Wir sind da. Ich stehe weiter dafür, dass es Veränderungen geben muss. Ich bin da auch nicht ohne Hoffnung: Denn es gibt inklusive und einladende Ansätze in der Kirche, die uns auch ansprechen. Daneben spielt natürlich eine Rolle, dass meine Frau und ich nach einem Austritt nicht mehr so weiterarbeiten könnten wie bisher. Unsere Berufe sind uns jeweils lieb und teuer – deshalb muss so ein Schritt sehr gut überlegt sein.

Der Katechismus der Katholischen Kirche
Bild: ©katholisch.de/fxn

Die Passage im Katechismus über Homosexuelle wurde bislang nicht geändert.

Frage: Gibt es denn Orte in der Kirche, wo Sie bewusst nicht hingehen, weil Sie dort nicht akzeptiert werden würden?

Gräve: Zu diesen Orten bin ich in der Regel nicht eingeladen. Ich gehe auch nicht bewusst an solche Orte, um zu provozieren oder mich zu positionieren. Die Brüche merke ich an anderen Stellen: Als ich in Düsseldorf mal zu einem der "Mittwochsgespräche" ins Maxhaus eingeladen wurde, war der Veranstalter sehr überrascht, als einige Gläubige deshalb bewusst nicht gekommen sind und gefordert haben, dass ich aus der Kirche ausgeschlossen werden soll. Mich hat das nicht überrascht. Ich war auch schon einmal bei einer Studierendenverbindung eingeladen, um "OutInChurch" vorzustellen. Da gab es konservative Stimmen, die in der Diskussion mit mir klar gemacht haben, dass sie Homosexualität für eine Sünde halten. Aber: So lange ein Diskurs darüber stattfinden kann, so lange wir uns in einem Raum befinden und die Möglichkeit besteht, miteinander zu sprechen und neue Erfahrungen zu machen – auch ich mache da neue Erfahrungen – ist das ein guter und wirksamer Prozess.

Frage: Gerade angesichts solcher Veranstaltungen kann es ja durchaus sein, dass Menschen – zum Beispiel aus Ihrer Schülerschaft – zu Ihnen kommen und um Rat fragen. Empfehlen Sie denen, als queere Menschen in der Kirche zu bleiben?

Gräve: Das ist sehr individuell. Beim Zuhören wird oft schon klar, welcher Weg sich für einen bestimmten Menschen abzeichnet – und das ist sehr unterschiedlich. Für mich geht es dann darum, die Menschen darin zu bestärken: Du bist von Gott genauso gewollt, wie du bist. Denn viele ziehen aus ihrem Glauben auch Energie für ihr Queersein, etwa um Anfragen aus dem Elternhaus zu überstehen. Es gibt in der Kirche ja viele Stellen für queere Menschen. Aber wenn der Weg aus der Kirche herausführt, halte ich niemanden auf.

Frage: Gerade wenn es um Homosexualität in der Kirche geht, stehen oft Männer im Fokus – etwa bei Fragen zum Priesteramt. Stehen Lesben da hintenan?

Gräve: Als Lesben sind wir zweifach diskriminiert. Frau sein in der Kirche ist schon nicht einfach, denn Frauenrechte werden in der Kirche weiter mit Füßen getreten, Stichwort Frauenpriestertum. Dann kommt die Homosexualität noch hinzu. Bei einer Struktur voller Männerbünde ist das ein doppelter Ausschluss. Manchmal findet dann sogar eine Täter-Opfer-Umkehr statt: Weil ich unbequeme Fragen stelle, bin ich dann auf einmal die Böse. Dabei sind es gerade die queeren Menschen, die unter der Kirche gelitten haben und leiden. Da fehlt es oft genug noch an Bewusstsein für diese Ausgrenzungserfahrungen. Denn gerade der Einsatz für diskriminierte Menschen entspricht ganz zentral der christlichen Botschaft.

Von Christoph Paul Hartmann