Maria als Längs-, Jesus als Querbalken: Tour zu besonderem Gipfelkreuz

Unglaublich, fantastisch, einzigartig - die Bergsteiger, die vom Gipfel der Schönfeldspitze herabkommen, schwärmen in höchsten Tönen. Einer bekennt, er sei nicht wegen der kolossalen Aussicht oben gewesen. Er wollte vielmehr aus nächster Nähe das Gipfelkreuz bestaunen, das da auf 2.653 Metern steht. Es ist ein Kunstwerk ohnegleichen. Eines mit Geschichte. Und die spielt nicht nur am Berg.
Das Erlebnis verlangt einen Preis: Vom österreichischen Wallfahrtsdorf Maria Alm aus sind fast 1.900 Meter zu Fuß zu bewältigen. Einige steile Passagen erfordern absolute Schwindelfreiheit und beherztes Zupacken.
Unsägliche Trauer, erhabene Schönheit
Vom sanierten Riemannhaus, einer Schutzhütte des Ingolstädter Alpenvereins, führen rotweißrote Markierungen über die Hochfläche des Steinernen Meeres am Wurmkopf vorbei in eine Scharte. Auf einem abschüssigen Gesims lässt sich die überhängende Südwand queren.
Das Gipfelkreuz wird erst auf den letzten Metern sichtbar: Maria bildet den Längsbalken und trägt auf den Armen ihren toten Sohn, waagrecht dahingestreckt, leichenstarr. Ein Bild unsäglicher Trauer und zugleich von erhabener Schönheit. Und doch so ganz anders als Michelangelos weltberühmte Pietà im Petersdom.

Bildhauer und Zimmerer Raphael Gschwandtl mit einer großen Holzscheibe in seiner Werkstatt in Maria Alm am Steinernen Meer (Österreich).
Passt das auf einen Berg? Laura Heiligensetzer, die junge Hüttenwirtin auf dem Riemannhaus, ist gerade in ihre zweite Saison gestartet. Selbst hat sie es noch gar nicht auf die Schönfeldspitze geschafft. Keine Zeit. Aber sie beobachtet, dass ihre Gäste anders von diesem Gipfel zurückkehren als etwa vom Breithorn gegenüber: zufriedener, glücklicher.
Bergerlebnis und Totengedenken
Zum Gipfelglück gehört nicht selten die Erinnerung an verstorbene Bergkameraden, Kriegstote oder Angehörige. Davon zeugen etliche der geschätzt 4.000 Gipfelkreuze in den Alpen. Manch einer findet sie heute nicht mehr zeitgemäß. Im bayerischen Oberland legte ein Unbekannter vor Jahren mehrfach die Axt an. Debatten über das Für und Wider des Brauchs waren die Folge.
Alpinistenlegende Reinhold Messner geißelte den Vandalismus - und wandte sich im selben Atemzug dagegen, Gipfel zu religiösen Zwecken zu "möblieren". Berge, so sein Standpunkt, gehörten der ganzen Menschheit und sollten nicht mit einer bestimmten Weltanschauung besetzt werden.
Ein Unwetter bricht Jesus die Beine
Im Sommer 2020 brach ein Sturm dem Jesus auf der Schönfeldspitze die Beine. Nach 50 Jahren musste ein neues Kreuz her; der örtliche Bergsteigerverein wandte sich an den jungen Bildhauer und Zimmerer Raphael Gschwandtl aus Maria Alm. Für den war es keine Frage, an der bisherigen Gestalt festzuhalten. "Etwas anderes hätte für mich da nicht raufgepasst." Schon aus Respekt gegenüber dem Vorgänger, dem Kapruner Künstler Anton Thuswaldner, wie er sagt. Eine Pietà in Kreuzform sei beispiellos in der Kunst. Thuswaldner starb mit 91 Jahren, nur ein halbes Jahr nach der Zerstörung seiner innovativen Gipfelfigur.
Gschwandtl war damals gerade 20. In wenigen Wochen stellte er das neue Kreuz fertig, sein Erstlingswerk erfüllt ihn mit Stolz. Er bekomme eigentlich nur positive Reaktionen dazu, erzählt er in der Werkstatt. Freilich habe er der Skulptur seinen eigenen Stil mitgegeben.
Gschwandtls Gottesmutter verfügt über weiblichere Formen und kräftigere Wangen. Zur Erinnerung an den Auftrag hat er sich eine Scheibe von Jesus abgeschnitten, genauer: vom Lärchenstamm, aus dem er die Figur herausgearbeitet hat.
"Wir distanzieren uns davon"
Die Thuswaldners hingegen sind mit dem neuen Kreuz alles andere als zufrieden. "Wir distanzieren uns davon", sagt Edith Defant-Thuswaldner, die das einstige Haus ihres Vaters am Fuße der Hohen Tauern hegt und pflegt. Die Nachschnitzung sei nicht im Einvernehmen mit ihrer Familie erfolgt. Bitterkeit und Enttäuschung klingen an. Dem Alpenverein in Saalfelden kreidet sie an, dem künstlerischen Erbe ihres Vaters nicht gerecht geworden zu sein.
Derselbe Alpenvereinschef hatte 1970 Anton Thuswaldner mit einem neuen Kreuz für den markantesten Berg des Steinernen Meeres beauftragt. Die beiden waren Arbeitskollegen bei den Tauernkraftwerken. Am Feierabend durfte der Künstler seine schier unerschöpfliche Kreativität in den betriebseigenen Werkstätten ausleben, die Familie sah ihn selten.
Vor dem Künstlerhaus in Kaprun steht noch der Torso des Thuswaldner-Kreuzes. Jesus fehlen nicht nur die Beine, auch das halbe Gesicht ist weg. Was sich auf dem Gipfel an Trümmern bergen ließ, liegt heute zu Füßen seiner Mutter.
Vom Herrgottsschnitzer zum modernen Wilden
In Kaprun gibt es einen eigensinnigen Künstler zu entdecken, der sich aus seinen Anfängen bei einem klassischen Herrgottsschnitzer zum modernen Wilden weiterentwickelte. Knoten, Türen, Treppen wurden zu Thuswaldners Motiven - und Zahlenmystik sein Metier. Ein- und Ausgeschlossensein, Werden und Vergehen, dazu immer wieder Zahlen, vor allem die 25. Im Alphabet steht sie für den vorletzten Buchstaben Ypsilon, der seine Arme ausstreckt wie Jesus am Kreuz. Oder ein Beter.
Defant-Thuswaldner, die als Ärztin in Saalfelden praktiziert, nimmt sich bei der Hausführung viel Zeit. Mit ihrem Mann hat sie den Keller vom Schimmelpilz befreit, das Anwesen saniert und sich durch das kaum überschaubare Werk ihres rastlosen Vaters hindurchgekämpft. So ist ein kleines Museum mit Café entstanden. Aus einem Fenster unterm Dach sieht man die Schönfeldspitze.

Edith Defant-Thuswaldner, Tochter des Künstlers Anton Thuswaldner, im Haus ihres Vaters in Kaprun (Österreich).
Im ersten Stock erklingt aus einem Röhrenradio die Biografie des früheren Hausherrn, eingesprochen von seiner letzten Lebensgefährtin. Zu hören ist eine Enkeltochter mit einer eigenen Jazzkomposition zu Ehren des Großvaters. Im Esszimmer, das zuletzt auch sein Atelier war, sieht alles so aus, als sei er gerade aufgestanden. Die Jacke hängt noch über dem Stuhl.
"Ein Stein Sein"
Im Garten stehen lauter schwere Brocken. "Ein Stein Sein", lautet eine Inschrift. Thuswaldner hatte eine hintersinnige Freude an Wortspielen. Und einen speziellen Humor. In einem Eck ist er neben seiner Frau bestattet. Die Urnen mit der Asche des Paares ruhen in einer Werkzeugkiste, verrät die Tochter. "Er war immer so schräg." Auf der Grabplatte stehen außer den Namen und Daten nur zwei Worte: "Kapital" und "Konkurs". Nicht das einzige Rätsel, das Thuswaldner den Betrachtern aufgibt.
Eines ist indes gelöst. Beim Aufräumen seines Nachlasses kam die zwischenzeitlich verschollene Pietà von 1956 zum Vorschein, die Thuswaldner 14 Jahre später als Vorlage für sein Gipfelkreuz diente. Sie ist aus Zirbenholz und nur halb so groß. Rote Leuchtfarbe betont das Gesicht der Mutter, der Jesus in ihren Armen hat seinen Kopf auf der anderen Seite. Beide Körper sind mit Stacheldraht umwickelt.
Neue Heimat für die Ur-Pietà
Vor zwei Jahren ist diese Skulptur ins Gotik- und Bergbaumuseum in Leogang umgezogen. Leiter Andreas Herzog findet, dass sie hier gut aufgehoben ist. Auch wenn der Schwerpunkt auf sakraler Kunst des Mittelalters liegt. Für ihn trägt die Thuswaldner-Pietà romanisch-gotische Züge. Passt also.
Sein Gipfelkreuz ist Geschichte. Was bleibt? Thuswaldner hat einen neuen Typus von Pietà-Darstellungen geschaffen. Seine Madonna beweint ihren toten Sohn nicht im Sitzen. Im größten Schmerz, der eine Mutter treffen kann, steht sie aufrecht.