Debatte um Äußerung des Kanzlers zu Migration und Stadtbild

Jesuit: Die Aussage von Herrn Merz ist absurd und gefährlich

Veröffentlicht am 17.10.2025 um 00:01 Uhr – Von Steffen Zimmermann – Lesedauer: 

Nürnberg ‐ Bundeskanzler Friedrich Merz hat Migration als "Problem im Stadtbild" bezeichnet. Der Nürnberger Seelsorger Ansgar Wiedenhaus verurteilt diese Aussage im katholisch.de-Interview deutlich. Wer Migration pauschal zum Problem erkläre, gebe den Reichtum einer pluralistischen Gesellschaft auf.

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Bei einem Pressestatement bezeichnete Bundeskanzler Friedrich Merz am Dienstag Migration als "Problem im Stadtbild". Seither schlagen die Wellen hoch, viele Menschen werfen Merz Rassismus vor. Auch der Jesuit Ansgar Wiedenhaus, der seit vielen Jahren an der Offenen Kirche St. Klara mitten in der Nürnberger Innenstadt als Seelsorger tätig ist, hält die Formulierung des Kanzlers für rassistisch und rückwärtsgewandt. Im katholisch.de-Interview erklärt Wiedenhaus, warum er die Vielfalt seiner Stadt als Bereicherung erlebt – und weshalb Politiker besser daran täten, Zuversicht statt Angst zu verbreiten.

Frage: Pater Wiedenhaus, Bundeskanzler Friedrich Merz hat Migration als "Problem im Stadtbild" bezeichnet – eine Formulierung, die viele als diskriminierend empfinden. Wie haben Sie die Aussage des Kanzlers verstanden?

Wiedenhaus: Man kann das kaum anders verstehen als: "In unseren Städten sind zu viele Ausländer." Ich wüsste ehrlich nicht, wie man diese Aussage von Herrn Merz sonst deuten sollte.

Frage: Teilen Sie also die Einschätzung derjenigen, die Merz Rassismus vorwerfen?

Wiedenhaus: Herr Merz hat bislang nicht erklärt, was er mit seiner Aussage stattdessen ausdrücken wollte. Von daher: Ja. Mein Eindruck ist, dass er mit solchen Stellungnahmen versucht, die vermeintliche Sehnsucht nach einer guten alten Zeit zu bedienen – einer Zeit, in der nichts Fremdes "störte". Nur: Diese Zeit hat es so nie gegeben.

Frage: Wenn er tatsächlich sagen wollte, dass es zu viele Migranten in deutschen Städten gibt – was folgt daraus?

Wiedenhaus: Das ist die entscheidende Frage. Ich mache es mal konkret: Vor meiner Kirche steht wochentags ein Obst- und Gemüsestand. Soll der weg, weil die Leute, die dort arbeiten, einen Migrationshintergrund haben? Das zeigt, wie absurd und gefährlich die Aussage des Bundeskanzlers ist.

„Unsere Gesellschaft ist internationaler geworden, und das sieht man auch. Aber das ist doch nicht die Ursache für unsere vermeintlichen oder echten Probleme!“

—  Zitat: Pater Ansgar Wiedenhaus

Frage: Ihre Kirche liegt mitten in Nürnberg. Wenn Sie dort vor die Tür gehen, was für ein Bild bietet sich Ihnen – außer dem Obst- und Gemüsestand?

Wiedenhaus: Unsere Kirche befindet sich an einer der belebtesten Ecken Frankens, ganz in der Nähe des Nürnberger Hauptbahnhofs. Aber ich muss gar nicht vor die Tür gehen, um die gesellschaftliche Realität der Bundesrepublik im Jahr 2025 zu erleben. In unsere Kirche kommen Menschen aus Polen, Kroatien, Italien, Spanien, Indien und mehreren afrikanischen Ländern. Das ist gelebte Normalität. Und draußen auf der Straße kommen noch einmal viele weitere Nationen dazu. Natürlich gibt es hier – wie in jeder Großstadt – auch soziale Probleme, Bettler, Drogenabhängige. Aber das sind keine Probleme, die vorrangig durch Migration verursacht werden. Und schon gar nicht löst man solche Probleme durch Abschiebungen.

Frage: Hat sich das Stadtbild in den vergangenen Jahren verändert?

Wiedenhaus: Natürlich hat sich unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert – und mit ihr das Stadtbild. Unsere Gesellschaft ist internationaler geworden, und das sieht man auch. Aber das ist doch nicht die Ursache für unsere vermeintlichen oder echten Probleme! Ich denke, dass Problem ist eher, dass viele Menschen mit der Globalisierung und den damit einhergehenden Veränderungen überfordert sind. Wir alle spüren: Als Gesellschaft stehen wir vor großen Aufgaben. Wir müssen klären, wie wir zusammenleben wollen, wie wir mit unterschiedlichen Kulturen und Lebensformen umgehen. Das ist anstrengend und macht manchmal Angst. Und wenn dann Politiker daherkommen und sagen "Ihr müsst Euch gar nicht ändern, wir schaffen das Problem einfach ab", dann klingt das natürlich verführerisch – auch wenn es völlig unsinnig ist. Aber genau auf diese Botschaft springen Menschen an. Die AfD macht ja auch nichts anderes.

Pater Ansgar Wiedenhaus SJ
Bild: ©Privat (Archivbild)

Pater Ansgar Wiedenhaus leitet seit 2009 die Offene Kirche St. Klara in Nürnberg.

Frage: Viele Menschen sagen, dass sie sich angesichts der starken Migration der vergangenen Jahre inzwischen fremd im eigenen Land fühlen. Haben Sie Verständnis für dieses Gefühl?

Wiedenhaus: Ich versuche eher zu verstehen, woher dieses Gefühl kommt. Entsteht es wirklich aus der eigenen Erfahrung – oder weil Politik und Medien ein bestimmtes Narrativ verstärken? Schauen Sie: In vielen ländlichen Regionen, in denen es kaum Migranten gibt, erzielt die AfD ihre höchsten Ergebnisse. Warum? Vielleicht ja deshalb, weil das Migrationsthema in den letzten Jahren so stark aufgeladen wurde, dass andere, viel drängendere Fragen – etwa der Klimawandel – völlig in den Hintergrund getreten sind. In den Wahlkämpfen und Schlagzeilen der vergangenen Monate ging es fast nur um die vermeintliche Überforderung durch Migration. Damit werden Ressentiments bedient – anstatt Solidarität zu stärken. Die Menschen, die Deutschkurse geben, Geflüchtete begleiten oder ihnen ein Zuhause schaffen, kommen in dieser Erzählung kaum vor. Schon 2015 wurde Angela Merkel für ihr "Wir schaffen das" verspottet. Dabei wäre es klug gewesen, daraus Stolz zu entwickeln: Wir sind ein Land, das Dinge schaffen kann! Stattdessen hat die Union bei diesem Thema inzwischen so sehr den Rückwärtsgang eingelegt, dass man sich wundert, dass ihre Politiker kein Schleudertrauma bekommen haben. Wer den Menschen ständig sagt: "Das schafft ihr nicht", der redet ihnen den Mut aus, Probleme überhaupt anzugehen.

Frage: Was würden Sie dem Bundeskanzler sagen, wenn er Sie um Ihre Einschätzung zu seiner Stadtbild-Aussage bitten würde?

Wiedenhaus: Ich würde fragen: Über wen reden Sie eigentlich? Sie werfen unzählige Menschen in einen Topf – Menschen, die unsere Gesellschaft prägen und bereichern. Natürlich gibt es Herausforderungen, um die wir uns kümmern müssen. Aber wer Migration pauschal zum Problem erklärt, gibt den Reichtum einer pluralistischen Gesellschaft auf.

Frage: Zum Schluss: Wenn Sie aus Ihrer Kirche treten und auf die Stadt blicken – was macht Ihnen Hoffnung?

Wiedenhaus: Das Gute ist immer da. Zwar sitzt in jeder U-Bahn der eine, der laut Musik hört und andere damit nervt – aber am anderen Ende sitzt eben auch einer, der einer alten Dame seinen Platz anbietet. Beides gehört zur Realität. Wenn wir über das "Stadtbild" reden, reden wir immer über Menschen – und da wird es gefährlich, wenn man nur auf das Äußere schaut. Ich sehe täglich, dass das Zusammenleben bei uns eigentlich ziemlich gut funktioniert, quer durch alle Nationalitäten. Was mich eher schockiert, ist die Sprache vieler Politiker, die oft das Bild eines gescheiterten Deutschlands zeichnen. Dabei ist so viel Gutes vorhanden! Je weniger wir das anerkennen und wertschätzen, desto schwerer wird es, die echten Herausforderungen anzupacken.

Von Steffen Zimmermann