Theologische und kirchenrechtliche Antworten auf die Demographie des geweihten Lebens

Wie alternde Orden hoffnungsvoll in die Zukunft schauen können

Veröffentlicht am 05.11.2025 um 00:01 Uhr – Von Felix Neumann – Lesedauer: 

Eichstätt/Altötting ‐ Wie sollen Ordensgemeinschaften damit umgehen, dass sie immer kleiner werden und ihre Mitglieder immer älter? Die Kirchenrechtler und Ordensleute Franziska Mitterer und Rafael Rieger werben für einen Perspektivwechsel.

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Die Zahl der Ordensleute nimmt ab, ihr Alter nimmt zu: rund 82 Prozent der Ordensfrauen sind über 65 Jahre alt, bei den Männern sind es 49 Prozent. Von den 9.467 Ordensfrauen sind mehr als die Hälfte der Schwestern nicht mehr tätig. Das hat massive Auswirkungen auf die Gemeinschaften: Viele sehen sich vor dem Ende ihrer Ordensgeschichte.

Wie soll man damit umgehen? Beim Ordensrechtstag an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt war das Mitte Oktober Thema. Die beiden Kirchenrechtler und Ordensleute Sr. Franziska Mitterer und P. Rafael Rieger plädieren für einen neuen Blick: Statt von alternden oder sterbenden Gemeinschaften sprechen sie von "Gemeinschaften in Vollendung". Was das für die Praxis der Orden bedeutet, erläutern sie im katholisch.de-Interview.

Frage: Sie sprechen nicht von alternden oder sterbenden Gemeinschaften, sondern von "Gemeinschaften in Vollendung". Warum?

Sr. Franziska: Jede Gemeinschaft hat einen Auftrag. Und ein Auftrag darf auch einmal zu Ende gehen, darf sich vollenden. Und das ist etwas ganz anderes, als von Sterben zu sprechen. Als Christen glauben wir zwar, dass im Tod das neue Leben beginnt. Aber Sterben hat in unserer Gesellschaft eine negative Bedeutung.

P. Rafael: Mit den Ordensgemeinschaften ist es ganz ähnlich wie im Leben von uns Menschen: Wir werden geboren, leben eine bestimmte Zeit hier auf Erden und gehen dann der Vollendung entgegen. Ordensgemeinschaften werden mit einer bestimmten Zielsetzung und Motivation gegründet. Da gibt es Hochphasen, in denen sie besonders wirksam sind – aber es gibt eben auch oft den Punkt, an dem ein Auftrag erfüllt ist.

Sr. Franziska Mitterer und Prof. P. Rafael Rieger
Bild: ©

Sr. Franziska Mitterer ist promovierte Theologin und Kirchenrechtlerin. Sie gehört den Schwestern vom Hl. Kreuz an, einem franziskanischen Orden. Der Franziskanerpater Rafael Rieger ist Professor für Kirchenrecht und Kirchliche Rechtsgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Frage: Trotz dieser Perspektive ist es für das einzelne Ordensmitglied aber sehr existenziell, wenn der Auftrag der eigenen Gemeinschaft sich vollendet.

P. Rafael: Die Rede von "Gemeinschaften in Vollendung" soll nicht einfach ein Euphemismus sein, ein schönes Wort für eine schlimme Sache. Im Gegenteil: Wir wollen die mit solchen Veränderungsprozessen verbundene existenzielle Dimension gar nicht in Abrede stellen, sondern damit vielmehr darauf hinweisen, dass diese Veränderungsprozesse wesentlich zum Leben dazugehören, sowohl als Individuum wie in einer gemeinschaftlichen Dimension. Mit der Perspektive der Vollendung schaffen wir es, solche Prozesse aus einer christlichen Hoffnungsperspektive zu betrachten. Auch wenn eine Gemeinschaft ihrem Ende entgegengeht, heißt das nicht, dass dadurch alles sinnlos war. Man selbst kann stattdessen dankbar auf die Zeit zurückschauen, und hoffnungsvoll in die Zukunft blicken.

Frage: Wann kann man überhaupt von einer Gemeinschaft in Vollendung sprechen? Gibt es da klare Kriterien?

Sr. Franziska: Für die kontemplativen Frauenklöster gibt es klare Kriterien in der Instruktion "Cor orans". Das gilt zwar nur für diese Orden, man kann daraus aber auch Maßstäbe für alle Arten von Gemeinschaften ableiten. Da geht es darum, dass eine Gemeinschaft in der Lage sein muss, ihr Charisma zu leben und die Leitung und Ausbildung gesichert sein muss. Es braucht eine Mindestgröße, um das liturgische und gemeinschaftliche Leben aufrecht erhalten zu können. Und es braucht die Kapazitäten, dass sich eine Gemeinschaft selbst unterhält und ihre Klostergebäude erhalten und bewirtschaften kann. Die Kirche in den Niederlanden ist uns da voraus. Dort geht man so vor, dass eine Gemeinschaft zwölf Jahre in die Zukunft blicken soll: Gibt es dann noch genügend Mitglieder, die überhaupt noch in der Lage sind, einen Orden zu leiten? Heute haben wir vielleicht noch eine topfitte 65-oder 75-jährige Schwester, die den Orden leiten kann – aber wie sieht das in zwölf Jahren aus? Gibt es dann überhaupt noch genügend Mitglieder, um ein Ordenskapitel abzuhalten? Bei den kontemplativen Orden sind fünf Mitglieder die Untergrenze, und eines muss unter 70 Jahren alt sein. Aber nur weil man "jüngere" Mitglieder hat, heißt das noch nicht, dass sie willens und in der Lage sind, die nötige Verantwortung zu übernehmen. Am Ende muss jede einzelne Gemeinschaft daher für sich genau anschauen, wo sie steht.

P. Rafael: Die Idealvorstellung einer Ordensgemeinschaft ist die Autonomie. Eine Gemeinschaft soll für alles selbst sorgen können, was zum guten Leben der Ordensangehörigen und zur Verwirklichung ihres Sendungsauftrags nötig ist. Am Ende müssen wir uns fragen: Ist unsere Gemeinschaft wirklich noch selbständig?

Frage: Sie haben Ihre Antwort allgemein begonnen und mit "wir müssen" beendet – das ist wahrscheinlich der springende Punkt in einer Gemeinschaft: Von dem unbestimmten "man" zum "wir", "es betrifft uns" zu kommen. Wie schafft man das?

P. Rafael: Das ist natürlich keine rechtliche, sondern eine psychologische und menschliche Frage. Objektive Kriterien aufstellen ist relativ einfach, sich selbst konkret anzuschauen und zu Einsichten zu kommen, ist schwierig. Das ist ein Prozess in den jeweiligen Gemeinschaften, der einige Zeit in Anspruch nimmt, und der auch ein geistlicher Prozess ist. So wie man sich individuell beim Älterwerden damit arrangieren muss, dass manches nicht mehr geht, muss man das auch in Gemeinschaften bemerken und irgendwann akzeptieren.

Sr. Franziska: Viele Gemeinschaften übersehen tatsächlich, dass es für sie gut wäre, realistisch in die Zukunft zu blicken. Mit unserer Ordensrechtstagung wollten wir daher auch den Impuls setzen, dass Gemeinschaften möglichst frühzeitig innovativ über ihre Zukunft nachdenken – ohne Angst vor komplizierten Sachverhalten zu haben. Natürlich gibt es viele kirchenrechtliche und wirtschaftliche Herausforderungen in solchen Prozessen, aber das ist Kompetenz, die man sich von außen dazu holen kann. Mit der Zukunft auseinandersetzen kann man sich aber nur selbst.

„Am Ende müssen wir uns fragen: Ist unsere Gemeinschaft wirklich noch selbständig?“

—  Zitat: P. Rafael Rieger

Frage: Welche Möglichkeiten gibt es denn?

Sr. Franziska: Man kann etwa über die Bündelung und Zusammenlegung nachdenken. Dann muss man überlegen, welche Art der Vernetzung lebensförderlich ist für die jeweilige Gemeinschaft. In der Schweiz gibt es beispielsweise drei Benediktinergemeinschaften, die zusammen an einen Ort gezogen sind, als die drei Klöster zu groß wurden. Das ist ein sehr anspruchsvoller Prozess, bei dem über Immobilien und vieles mehr verhandelt werden muss. Aber jetzt sind sie sehr glücklich an ihrem neuen, gemeinsamen Ort.

P. Rafael: Wichtig ist, Entwicklungen nicht auszusitzen, sondern sie proaktiv in die Hand zu nehmen und nicht darauf zu warten, dass jemand von außen kommt und steuernd eingreift. Das sollte immer die letzte Alternative sein. Nach Möglichkeit sollte immer die Gemeinschaft selbst sich fragen, ob und mit wem sie fusionieren soll, wie sie zukünftig wohnen wollen, was mit den Vermögenswerten geschieht.

Frage: Hat das Kirchenrecht den nötigen Instrumentenkasten, um gute Antworten auf diese Fragen zu finden?

Sr. Franziska: Der Vorteil des Kirchenrechts ist, dass es hier sehr weit ist. Das Ordensrecht im CIC ist ein Rahmenrecht. Vorgegeben ist nur ein allgemeiner Rahmen, der dann von den einzelnen Gemeinschaften in ihren Konstitutionen und Satzungen ausgefüllt wird. Dieses sogenannte sekundäre Ordensrecht kann man sehr flexibel und kreativ gestalten.

P. Rafael: Ich nehme auch wahr, dass das Ordensdikasterium versucht, möglichst gut auf die einzelnen Gemeinschaften und ihre Bedürfnisse einzugehen, erst einmal zu hören und Vorschläge für Lösungen von den Orden selbst zu bekommen. Auch in Rom setzt man also auf die Kreativität und die Autonomie der einzelnen Orden, anstatt alle Veränderungsprozesse in Orden nach einem festen Schema abzuarbeiten.

Frage: Die Ordenslandschaft ist sehr vielfältig und oft kleinteilig. Wird man den aktuellen Entwicklungen Herr, wenn man nur auf die einzelnen Gemeinschaften schaut, oder braucht es vielleicht einen größeren Schritt? Von außen betrachtet fragt man sich ja schon, ob es so viele verschiedene selbständige Franziskanerinnenkongregationen braucht, oder ob es noch zeitgemäß ist, dass es drei männliche franziskanische Orden gibt.

P. Rafael: Ja, das ist ja ein bekannter Witz, das selbst der liebe Gott nicht weiß, wie viele Franziskanerinnengemeinschaften es gibt. Die Gründe liegen in der Geschichte: Die heutige Ordenslandschaft wurde nicht am Reißbrett geplant. Gemeinschaften sind im Umfeld von konkreten Problemen und charismatischen Gründern entstanden und haben sich organisch entwickelt, sich ausgebreitet, bisweilen aufgespalten. Bei meinem eigenen Orden gab es schon einmal eine Konsolidierung von oben: Papst Leo XIII. hat Ende des 19. Jahrhunderts verfügt, dass aus den vielen verschiedenen franziskanischen Männerorden drei werden. Der Einzige, der so etwas von außen verfügen kann, ist der Papst. Inwieweit das sinnvoll und zielführend ist, ist eine andere Frage. Gemeinschaften mit ähnlicher Spiritualität sollten sich von sich aus austauschen und schauen, wo sie kooperieren können. Es gibt schon einen guten Austausch zwischen den drei franziskanischen Männergemeinschaften, aber diese Orden sind noch nicht an dem Punkt, dass sie unmittelbar in der Phase der Vollendung stehen. Bei kleineren diözesanen Gemeinschaften kann das ganz anders aussehen, da ist der Druck höher. Aber auch da sollten die Initiativen von unten kommen. Sinnvoll ist auf jeden Fall, die übergeordneten Strukturen genauer anzuschauen; in den letzten Jahren haben viele Orden ihre Provinzen zusammengelegt, weil sie viel zu klein wurden. Wir Franziskaner haben jetzt statt vier deutschen Provinzen eine einzige.

Sr. Franziska: Es gibt auch Fälle, in denen das Ordensdikasterium tätig wird: Die Vinzentinerinnen wurden angewiesen, ihre Generalate zu fusionieren. Da gab es einen Aufschrei, weil die Strukturen und Kulturen teilweise trotz gleicher Spiritualität unterschiedlich sind. So etwas von außen zu verfügen, birgt immer die Gefahr von Protesten und Abwehrhaltungen.

Schwester Regina, Schwester, Bernadette und Schwester Rita
Bild: ©picture alliance/wildbild/Wild & Team/picturedesk.com

Die drei Augustiner-Chorfrauen in Goldenstein sind ein besonders drastisches Beispiel, bei dem es zu Konflikten kommt, wenn eine Gemeinschaft kleiner und älter wird.

Frage: Aktuell gibt es einige prominente Fälle in Frauenorden, denen ein männlicher päpstlicher Kommissar vorgesetzt wird. Was wäre in diesen Fällen eine gute Lösung?

Sr. Franziska: Ich denke, dass da Kirchenrecht nicht die Antwort ist. Da geht es eher um Kommunikation und das Wahrnehmen der Realität. Sie spielen ja sicher auf den Fall der Augustiner-Chorfrauen in Goldenstein an. Das ist ein ganz spezieller Fall: Da sind drei betagte Schwestern, die ihren Lebtag lang Lehrerinnen waren, also durchaus Autoritätspersonen, und dann sollen sie sich von jemandem von außen etwas sagen lassen. Das ist eine menschliche Befindlichkeit, die ich gut nachvollziehen kann. Gleichzeitig verstehe ich den Propst, der jetzt für sie verantwortlich ist, genauso. Er macht sich ja auch Sorgen um die Gesundheit und die Versorgung der drei Schwestern.

P. Rafael: Der Fall bedient natürlich auch wunderbar das Klischee, dass da wieder Frauen in der katholischen Kirche von Männern unterdrückt werden. Wenn man mit etwas Kenntnis vom Ordensleben drauf schaut, dann stellt sich die Sache schon etwas differenzierter dar. Ich kenne das auch von meinen älteren Mitbrüdern, dass die Selbstwahrnehmung und die Fremdwahrnehmung auseinandergehen, etwa wenn es um die Frage geht, ob ein älterer Mitbruder noch Auto fahren sollte.

Frage: Aber ist das bei Frauenorden nicht vielleicht doch noch einmal ein eigenes Problem, wenn plötzlich ein männlicher Oberer eingesetzt wird?

P. Rafael: Es ist jedenfalls sinnvoll, dass Frauengemeinschaften von Frauen geleitet werden. Das vereinzelt bestehende Modell, dass manche Frauenklöster von einem Männerkloster abhängen, entspricht nicht mehr den heutigen Idealen. Die Frage der Leitung ist unabhängig von der Aufsicht, die je nach Gemeinschaft beim Diözesanbischof oder letzten Endes beim Papst liegt, also bei Männern. In den Richtlinien der niederländischen Orden steht als Zielformulierung, dass in Gemeinschaften, die sich nicht mehr durch eigene Oberinnen leiten können, als Oberin Ordensfrauen aus einem anderen Orden eingesetzt werden sollen. Das ist allerdings nicht immer möglich, denn dafür braucht man natürlich Ordensfrauen, die dafür frei sind und nicht schon in ihrer eigenen Gemeinschaft ganz eingespannt sind.

Frage: Was raten Sie Ordensgemeinschaften, um rechtzeitig darauf zu reagieren, dass sie auf die Vollendung zugehen?

Sr. Franziska: Ich finde es wichtig, das Thema zu enttabuisieren. In nahezu jeder Gemeinschaft haben wir einen Prozess der "Unterjüngung", das ist der komplementäre Begriff zur Überalterung. Wenn man sich darauf einlässt, das nüchtern zu benennen, kann man proaktiv handeln und überlegen, welche Möglichkeiten es gibt.

P. Rafael: Ich halte es für zentral, die Augen nicht vor der Realität zu verschließen und zugleich als Christen mit einer Hoffnungsperspektive unterwegs zu sein. In all diesen Wandlungsprozessen ist Gott gegenwärtig.

Von Felix Neumann