"Von Kontrolle kann keine Rede sein"
Frage: Frau Schroeder, Angelina Jolie hat sich vorsorglich die Brüste amputieren lassen. Wie bewerten Sie diesen Schritt?
Schroeder: Ich möchte diesen Schritt aus ethischer Sicht nicht bewerten. Es geht nicht darum, medizinische Eingriffe von vornhinein zu verteufeln. Vielmehr stellt sich die Frage, ob der Eingriff der prophylaktischen Brustamputation in medizinischer Hinsicht zielführend ist und ob er sich mit den persönlichen Vorstellungen eines guten und glücklichen Lebens deckt.
Frage: Frau Jolie hat betont, dass sie anderen Frauen mit ihrem Outing zeigen möchte, dass diese das Thema Brustkrebs "angehen und kontrollieren können". Stimmt das?
Schroeder: Ich bin keine Onkologin, habe mich aber im Rahmen meiner Doktorarbeit mit der prädiktiven Brustkrebsdiagnostik und mit prophylaktischen Amputationen beschäftigt. Da lässt sich statistisch sagen, dass das Risiko an Brustkrebs zu erkranken, eklatant verringert werden kann. Die Überlebensrate der Frauen, die sich diesem Eingriff unterzogen haben, ist jedoch im Vergleich zu denen, die an Früherkennungsprogrammen teilgenommen haben, aber keineswegs erhöht. Bislang ist der medizinische Nutzen des Eingriffs nicht eindeutig belegt.
Von Kontrolle kann keine Rede sein, zumal genetische Veranlagungen in der Regel nicht monokausal eine Krankheit bedingen. So haben etwa Menschen mit Brustkrebsveranlagung ein deutlich erhöhtes Risiko, Eierstockkrebs zu entwickeln. Auch ist zu bedenken: Völlig gesunde Menschen unterziehen sich einem schwerwiegenden operativen Eingriff mit sämtlichen Komplikationspotenzialen. Zugleich stellt diese Operation einen Eingriff in die leiblich-psychische Integrität der Frauen da. Dies hat mitunter Folgen für die zukünftige Selbstwahrnehmung.
Frage: Die Schauspielerin hat ihre Entscheidung aufgrund einer Vorhersage getroffen, nach der sie durch einen Gendefekt für Brustkrebs anfällig sei. Inwiefern überträgt die prädiktive Diagnostik grundlegende Entscheidungen vom Experten, dem Arzt, auf den Laien?
Schroeder: Die Autonomie des Patienten steht im Vordergrund. Bei der Deutung der medizinischen Fakten ist Vorsicht geboten: Es handelt sich immer nur um ein Wahrscheinlichkeitswissen, um eine statistische Angabe, die sich auf ein Kollektiv von Personen bezieht. Im Einzelfall wissen wir nichts darüber, ob oder wann der konkrete Mensch erkrankt. Es wäre irreführend, würde das prädiktive Wissen mit einer exakten Prognose gleichgesetzt werden. Möglich sind Kurzschlussreaktionen: Aus einer tief empfundenen Ausweglosigkeit lassen sich Frauen dann unter Umständen auf Verdacht hin die Brust entfernen. Dann zeigt sich ein nicht gewollter Effekt. Wissen trägt nicht mehr zur selbstbestimmten Lebensführung bei, sondern verengt radikal Handlungsspielräume und verändert Lebenspläne.
Frage: Darf aus ethischer Sicht jemand, der nach einem Gentest von einem hohen Krankheitsrisiko weiß, noch Kinder zeugen oder bekommen?
Schroeder: Ihre Frage spricht die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und des Kindes an. Zumeist lassen prädiktive Tests nur Wahrscheinlichkeitsaussagen zu. Sicherlich liegt die Entscheidung hinsichtlich der Zeugung von Nachwuchs im Ermessen der Betreffenden. Darüber hinaus besteht ohnehin auch für bislang nicht diagnostizierte Veranlagungen die Gefahr, diese zu vererben. Ohne Erkrankungsschicksale kleinreden zu wollen, enthält das Leben doch verschiedenste Facetten, die es lebenswert machen.
Frage: Das unheilbare und nicht therapierbare Nervenleiden Chorea Huntington lässt sich anders als Brustkrebs mit Gentests zweifelsfrei voraussagen. Ist es da vernünftig, dass man sich darauf untersuchen lässt?
Schroeder: Das ist eine Sache der persönlichen Selbstauslegung: Kann ich mit dem Wissen leben? Es kann einem Menschen die Lebensfreude nehmen und ihn überfordern oder aber dazu bringen, alles zu regeln. Ich bin da skeptisch und denke, dass so einfach keine Empfehlungen gegeben werden können. In jedem Fall braucht es eine gute Aufklärung und – wenn gewünscht – eine psychosoziale Beratung.
Um den Einzelnen vor Informationen zu schützen, die für ihn nicht im positiven Sinne bewältigbar sind, ist das "Recht auf Nichtwissen" im Gendiagnostikgesetz fest verankert. Dem Recht auf Nichtwissen geht nicht Ignoranz voraus, sondern im besten Fall ein wohlbedachter Abwägungsprozess. Und der bedarf unter Einbeziehung der medizinischen Fakten einer vernunftbasierten Reflexion der persönlichen Vorstellungen eines guten und glücklichen Lebens.
Frage: Ist das auch eine Absicherung gegenüber Krankenkassen und Versicherungen? Es ist doch denkbar, dass künftig jeder verpflichtet werden könnte, sich einer solchen prädiktiven Gendiagnostik zu unterziehen, um Erkrankungen vorzubeugen?
Schroeder: Ja, das Recht bestimmte Informationen abweisen zu dürfen, hat sicher Schutzfunktion. Doch scheint mir das prädiktiv erhebbare Wissen im Blick auf die Vorbeugung von Krankheiten derzeit (noch) überbewertet. Die diagnostischen Möglichkeiten übersteigen bei Weitem das medizinische Können. Wird jedoch Machbarkeit und Kontrolle propagiert, nehmen nicht nur die Erwartungshaltungen an die Medizin zu, auch die Verantwortungslast und der Rechtfertigungsdruck von vermutlichen und nachweisbaren Merkmalsträgern steigen. Es könnte dazu kommen, dass die Solidarität mit diesen Menschen sinkt.
Frage: Was ist genau die "Ethik des Nichtwissens", die Sie in Ihrer Doktorarbeit behandeln?
Schroeder: Eine zentrale Herausforderung unseres Lebens besteht in der Notwendigkeit, auch unter ungesicherten Wissensbedingungen verantwortungsbewusst zu entscheiden. Die Dissertation verteidigt das Recht auf Nichtwissen als eine mögliche Form des Umgangs mit den modernen biomedizinischen Wissens- und Nichtwissensbeständen. Das Recht auf Nichtwissen wird vor dem Hintergrund der Stärkung der Patientenrechte als legitimer Ausdruck einer aktiven und lebensbejahenden Lebensgestaltung positiv begründet.
Frage: Ist es theologisch und ethisch vertretbar, sich einer solchen Gen-Untersuchung zu verweigern, auch wenn der eigene Stammbaum eine genetische Disposition vermuten lässt?
Schroeder: Ich sehe das so. Die Reflexion setzt beim Einzelnen und dessen Vorstellungen eines guten und sinnerfüllten Lebens an. Konfrontiert mit dem Wissensangebot ist er zur Stellungnahme aufgefordert. Zunächst ist zu überlegen, welcher Nutzen von den gendiagnostisch erhobenen Daten erwartet wird. Verschiedene Aspekte sind zu bedenken, so die medizinischen Erwägungen, und nicht zuletzt die persönliche Lebenssituation im umfassenden Sinne. Die Entscheidung trifft jeder, wenn möglich in Absprache mit Familienangehörigen, für sich – und zwar auf Basis einer adäquaten fachärztlichen Aufklärung und im Horizont der persönlichen Selbstauslegung. Eine Ethik des Nichtwissens ermutigt gegebenenfalls zum Wissensverzicht in Sinneinsicht, Freiheit und Verantwortung.
Das Interview führte Agathe Lukassek