Jahre der Angst

Die am Donnerstag in Berlin von den deutschen Bischöfen vorgestellte Studie des Bundesverbands Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) geht einem dunklen Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte nach: Dem Alltag und dem Leid vermeintlich oder tatsächlich geistig behinderter und psychisch kranker Kinder und Jugendlicher, die zwischen 1949 bis 1975 in kirchlichen Heimen der Behindertenhilfe aufwuchsen.
Schätzungen zufolge lag ihre Gesamtzahl in Heimen der katholischen Behindertenhilfe bei bis zu 50.000. Mindestens noch einmal so viele wurden in evangelischen Einrichtungen betreut. Die Behindertenhilfe lag nach dem Zweiten Weltkrieg nahezu vollständig in evangelischer und katholischer Trägerschaft. Erst ab den 1970er Jahren kamen freie und staatliche Träger in größerem Maß hinzu.
70 Prozent der Befragten erlebten körperliche Gewalt
Während es seit einigen Jahren bundesweite Initiativen gibt, um die Situation von Heimkindern in Erziehungshilfe-Einrichtungen aufzuarbeiten, betritt die in den vergangenen drei Jahren erarbeitete Caritas-Studie für den Bereich Psychiatrie und Behindertenhilfe Neuland. Und erstmals stehen dabei konsequent die (ehemaligen) Bewohner im Mittelpunkt.
Experten der Katholischen Hochschule Freiburg befragten unter Leitung der Sozialpädagogin Annerose Siebert mehr als 300 Personen, die in den Heimen aufwuchsen. Und hörten viele erschütternde Berichte. So gaben 70 Prozent an, körperliche Gewalt erduldet zu haben. Dabei reichte die Bandbreite von Ohrfeigen über Schläge mit Hand, Gürtel oder Rohrstock bis zum Herausreißen von Zehennägeln als Strafe für einen Fluchtversuch.
Weitere Informationen
Weitere Informationen zur Heimkinderzeitstudie finden Sie auf der Internetseite des Bundesverbands Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie.Rund 60 Prozent berichteten von Erfahrungen, die die Studienmacher als psychische Gewalt einordnen: Erzieherinnen stellten Kinder wegen Bettnässens vor der Gruppe bloß oder sperrten ängstliche Kinder in dunkle Keller. Jugendliche wurden gezwungenen, ihr Erbrochenes zu essen. Und 30 Prozent der Befragten sprachen über sexualisierte Gewalt: So ließ sich ein Einrichtungsleiter und Pfarrer im wöchentlichen Pflicht-Beichtgespräch ausführlich über "Verfehlungen gegen das Keuschheitsgebot" erzählen. Bei Gesundheitsuntersuchungen mussten sich Pubertierende die Geschlechtsorgane abtasten lassen. Eine Frau berichtete den Wissenschaftlern von Zwangssterilisationen.
Hinzu kommt, dass fast ein Viertel der Befragten angab, bis heute nicht zu wissen, warum er oder sie eigentlich in das Heim gebracht wurde. Häufig kam es zu Fehleinweisungen: Verhaltensauffällige oder schwer erziehbare Kinder wurden kurzerhand als psychisch krank oder geistig behindert eingestuft und zwangseingewiesen. "Die Zahlen sind erschütternd, denn sie belegen, dass wir es mit einem hohen Maß an strukturell bedingter Gewalt zu tun haben, die wir nicht einfach mit dem Verweis auf die damals üblichen pädagogischen Methoden abtun dürfen", betonte CBP-Geschäftsführer Thorsten Hinz.
Konkrete Hilfsangebote in Sicht
Deutlich wird zugleich, unter welchen schwierigen finanziellen Bedingungen die Einrichtungen arbeiten mussten, gerade in den Nachkriegsjahren. Es fehlte an allem. Die Erzieherinnen und Ordensfrauen waren dramatisch überlastet und überfordert. Der CBP versteht die Studie nun auch als Anstoß, die Aufarbeitung vor Ort voranzubringen. Zugleich sieht Geschäftsführer Hinz die Verantwortung für die heutigen Einrichtungen der Behindertenhilfe, immer wieder neu das eigene pädagogische Handeln zu prüfen.
Für die damaligen Opfer ist nach langem, zähen Ringen jetzt ein konkretes Hilfsangebot in Sicht: Denn nur wenige Tage vor der Veröffentlichung der Studie haben sich Bund, Länder und Kirchen auf eine finanzielle Entschädigung der Gewaltopfer in den Behinderteneinrichtungen und Psychiatrien geeinigt. Betroffene können nun unbürokratisch eine pauschale Zahlung von 9.000 Euro sowie darüber hinaus eine Rentenersatzzahlung von bis zu 5.000 Euro beantragen.
Statement von Kardinal Rainer Maria Woelki
Der Kölner Erzbischof, Kardinal Rainer Maria Woelki, der innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz Vorsitzender der Caritaskommission ist, hat sich bei der Vorstellung der Studie zu den Vorkommnissen in den Einrichtungen der katholischen Behindertenhilfe in Westdeutschland (1949-1975) geäußert und die Opfer um Entschuldigung gebeten:
"Als Vorsitzender der Caritaskommission der Deutschen Bischofskonferenz sage ich ausdrücklich, dass ich die damals in den katholischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie ausgeübte physische, psychische und sexuelle Gewalt zutiefst bedauere und die Betroffenen dafür um Entschuldigung bitte. Kirchliche Organisationen und Verantwortliche haben in diesen Fällen dem christlichen Auftrag, Menschen mit Behinderung und psychiatrisch Erkrankte in ihrer Entwicklung zu fördern und ihre Würde zu schützen, nicht entsprochen."