Kardinal Marx hatte Gruppe kirchenrechtlich aufgelöst

Hinweise auf Missbrauch in "Katholischer Integrierter Gemeinde"

Veröffentlicht am 17.06.2021 um 11:29 Uhr – Lesedauer: 

München ‐ Vor einem halben Jahr löste Kardinal Reinhard Marx die "Katholische Integrierte Gemeinde" kirchenrechtlich auf. Vorangegangen war eine Visitation durch das Münchner Erzbistum. Nun gibt es neue, bisher öffentlich nicht bekannte Vorwürfe.

  • Teilen:

Gegen die vor einem halben Jahr von Kardinal Reinhard Marx kirchenrechtlich aufgelöste "Katholische Integrierte Gemeinde" (KIG) gibt es neue, bisher öffentlich nicht bekannte Vorwürfe. Demnach könnte es in der Gruppe vor mehr als 40 Jahren auch einzelne Fälle von sexuellem Missbrauch gegeben haben. Die unabhängigen Ansprechpersonen für Verdachtsfälle von sexuellem Missbrauch der Erzdiözese München und Freising hätten Kenntnis von fünf Hinweisen, teilte das Erzbischöfliche Ordinariat am Donnerstag auf Anfrage der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) mit.

Vier Hinweise bezögen sich auf Taten, die sich in den 1970er-Jahren ereignet haben sollen. Soweit strafrechtlich relevant, seien sie bei Bekanntwerden bereits verjährt gewesen. Ein Vorgang in Nordrhein-Westfalen sei an das Erzbistum Paderborn übergeben worden. In den vier weiteren Fällen hätten die Identität des Beschuldigten oder der Tathergang nicht genau geklärt werden können. Die Hinweise wie auch alles andere dem Erzbistum zu Verdachtsfällen vorliegende Material seien 2018/2019 der Staatsanwaltschaft übergeben worden. Von entsprechenden Ermittlungen sei nichts bekannt.

Die KIG entstand nach dem Zweiten Weltkrieg in München und galt zeitweise als ein vielversprechender Aufbruch in der katholischen Kirche. Sie wollte nach eigener Darstellung "ein Ort für ein aufgeklärtes und unverkürztes Christentum" sein. 1978 sprach der damalige Münchner Erzbischof Joseph Ratzinger die kirchliche Anerkennung aus. Er stand über Jahrzehnte im Kontakt mit der Gruppe.

Massive Vorwürfe ehemaliger Gemeindemitglieder

Massive Vorwürfe ehemaliger Gemeindemitglieder lösten eine sogenannte Visitation durch das Erzbistum aus, die 2020 abgeschlossen wurde. Nach Angaben des Untersuchungsteams gab es in der KIG überzogene Gehorsamsforderungen, war das wirtschaftliche Handeln undurchsichtig, wurden Kritiker kompromisslos ausgegrenzt. Ehemalige Mitglieder schilderten geistliche Manipulationen in einem System psychischer und finanzieller Abhängigkeit, was die KIG als "böswillige Verleumdung" zurückwies.

Nach Ordinariatsangaben wurde Ende November 2020 ein Ansprechpartner für ehemalige Mitglieder der Gemeinde benannt, mit dem bisher 45 Personen Kontakt gehabt hätten. Darunter seien auch Ehemalige gewesen, die positive Erfahrungen geschildert und verlangt hätten, diese stärker zu gewichten. Mehrere Personen hätten zudem um ein persönliches Gespräch mit dem Erzbischof gebeten. Ein solches gab es den Angaben aus der Kirchenbehörde zufolge bisher nicht. Zugleich stellte ein Sprecher des Erzbistums ein Treffen von Marx mit einer Gruppe ehemaliger KIG-Mitglieder in Aussicht. "Das wird im Zuge der weiteren Auseinandersetzung mit der Thematik geprüft", erklärte er. Aus Sicht des Erzbistums müsste der Rahmen nichtöffentlich und vertraulich sein.

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. hatte sich nach den Vorwürfen von der KIG distanziert. Er sei offensichtlich "über manches im Innenleben" der Gemeinde "nicht informiert oder gar getäuscht" worden, erklärte er. Er habe die Gruppe kirchlich anerkannt, weil er sie zur Rechtgläubigkeit habe begleiten wollen. "Dass bei dem Versuch, die Dinge des täglichen Lebens integral vom Glauben her zu gestalten, dabei auch schreckliche Entstellungen des Glaubens möglich waren, ist mir zunächst nicht bewusst geworden", so der frühere Papst. "Ich bedaure es zutiefst, dass so der Eindruck entstehen konnte, alle Aktivitäten der Gemeinde seien vom Erzbischof gebilligt." (tmg/KNA)