Hans Joas: Ich wünsche mir eine Kirche, die vom Glauben begeistert ist
Offensichtlich denkt Hans Joas auch zu seinem 75. Geburtstag an diesem Montag nicht an Ruhestand. Das erkennt man schnell in seinem Büro in der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität gegenüber dem Berliner Dom. Im vergangenen Jahr erhielt der gebürtige Münchner den Preis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie für sein wissenschaftliches Lebenswerk, an dem er weiter arbeitet. Eines seiner älteren Bücher, "Die Entstehung der Werte" von 1997, wurde erst jüngst ins Französische übersetzt und sorgt dort für hohe Aufmerksamkeit in den Medien. Der praktizierende Katholik war auch Delegierter des Synodalen Weges. In kirchlichen Kreisen ist er nicht zuletzt für seinen Widerspruch gegen die These von einem zwangsläufigen Prozess der Säkularisierung bekannt. Nach seinen Büchern "Die Macht des Heiligen" (2017), "Im Bannkreis der Freiheit" (2020) und "Warum Kirche?" (2022) arbeitet er derzeit an einem Werk über die Geschichte universalistischer Werte. Im Interview spricht Joas über die Sakralität der Werte – und erläutert, warum die katholische Kirche keine Moralagentur ist.
Frage: "Hans Joas versöhnt die Demokratie mit dem Heiligen", so jüngst die Literaturbeilage von "Le Monde" auf ihrer ersten Seite. Ein Geschenk zu Ihrem 75. Geburtstag, Herr Professor Joas?
Joas: Das sicher nicht, aber ich habe mich sehr gefreut. Offensichtlich trifft das Thema einen Nerv der Zeit.
Frage: Inwiefern?
Joas: Es geht um die Voraussetzungen des moralischen Handelns in einer pluralen Welt. Es gibt eine Vielfalt von Werten und jeder einzelne von ihnen ist nur auf den ersten Blick eindeutig. Blicken wir auf die Praxis, wird es schwierig.
Frage: Warum?
Joas: Nehmen wir etwa das Thema Krieg: Was folgt jeweils aus dem Gebot der christlichen Nächstenliebe? Ein strikter Pazifismus oder die Bereitschaft zum Einsatz von Waffen? Was im einen Fall und was im anderen, und warum?
Frage: Wie kommt es dann aber, dass Menschen etwas für das offensichtlich Gute oder Böse halten?
Joas: Ich glaube nicht, dass dies in der Regel durch rationale Argumentation geschieht. Wenn ich etwa Kindesmissbrauch oder Vergewaltigung verurteile, ist dies kein Ergebnis umständlicher Überlegungen. Bestimmte Dinge erleben wir mit subjektiver Offensichtlichkeit und gefühlsmäßig sehr intensiv als gut oder böse. Dennoch handelt es sich dabei nicht einfach um Geschmacksurteile. Das sieht man schon daran, dass uns in solchen Fällen Verstöße empören und wir die Geltung unseres Urteils über uns hinaus in Anspruch nehmen.
Frage: Wie entstehen nun aber positive Gewissheiten vom Guten?
Joas: Eine Grundschicht wird uns schon in unserem Aufwachsen vermittelt – durch die Identifikation etwa mit unseren Eltern. Aber dabei bleibt es nicht. Es gibt auch spätere Erfahrungen, die mich aus den Grenzen meines Alltags und meines Selbst herausreißen: etwa wenn ich mich verliebe oder von einem Empfinden der Einheit mit der Natur überwältigt werde. So etwas kann man sich nicht vornehmen, es widerfährt uns. In diesem Sinne können Gewissheiten vom Guten uns ergreifen und verändern. Im Ergriffensein steckt das Gefühl der Begegnung mit einer Kraft, die mich ergreift. Hierfür verwende ich den Begriff des Sakralen.
„Schauen Sie auf die Arbeiterbewegung, sofern sie am Marxismus orientiert war. Die Schriften von Marx oder Engels waren dort quasi eine Heilige Schrift, Vordenker wurden zu Heiligen und Opfer zu Märtyrern.“
Frage: Ist die Sakralität aber nicht Folge der Religion?
Joas: Nein. Ich denke wie der Klassiker der französischen Soziologie Emile Durkheim, dass es genau umgekehrt ist: Sakralität geht aus menschlichen Erfahrungen hervor. Das Phänomen ist universell, also allen Menschen zueigen.
Frage: Demnach kann es auch für einen Atheisten Sakralität geben?
Joas: Richtig. Schauen Sie auf die Arbeiterbewegung, sofern sie am Marxismus orientiert war. Die Schriften von Marx oder Engels waren dort quasi eine Heilige Schrift, Vordenker wurden zu Heiligen und Opfer zu Märtyrern.
Frage: Wie erklären Sie dann Religionen?
Joas: Weil Erfahrungen der Selbstüberschreitung und des Heiligen nach gedanklicher Durchdringung rufen, nach Wiederholung und Weitergabe an unsere Kinder entsteht dabei etwas von Dauer. Schon im individuellen Leben entwickeln wir Rituale, wenn Ehepaare etwa den Hochzeitstag oder den Tag ihrer ersten Begegnung feiern. Auch Ort und Zeitpunkt bleiben nicht neutral. Kollektive Erfahrungen können erst recht mit Ritualen verbunden werden und zeitlichen Bestand gewinnen. So gibt es immer neue Sakralisierungsprozesse; so kommt es zur Entstehung oder Verlebendigung von Religionen und umfassenden Wertsystemen.
Frage: Liegt hier der Grund für Ihre Ablehnung von Max Webers These, wonach der wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische Fortschritt in der Moderne unweigerlich zu einem Bedeutungsverlust der Religion führt?
Joas: Bei Max Weber ist es komplizierter. Ihm ging es mehr um die Vorgeschichte der europäischen Säkularisierung seit dem Zeitalter der Propheten. Ich bestreite allerdings auch die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung.
Frage: Die großen Kirchen verlieren aber immer mehr an Zuspruch, der Glaube an Gott oder das Ewige Leben verdunstet.
Joas: Das bestreite ich für Deutschland oder große Teile Europas nicht. Ich gehe nur von anderen Ursachen aus, zumal die Zahl der Christen in anderen Weltgegenden ja erstaunlich wächst.
Frage: Wo sehen Sie die Gründe für die Austrittswelle?
Joas: Ich führe Schwächungen von Religionen nicht auf Modernisierung zurück, sondern auf die Geschichte und Gegenwart ihrer Positionen zu zentralen politischen und gesellschaftlichen Fragen sowie auf Diskrepanzen zwischen Lehre und Praxis.
Frage: Das gesellschaftspolitische Engagement gehört aber zum Auftrag der Kirche.
Joas: Selbstverständlich, sie darf dabei aber nicht ihren Charakter einbüßen, zu dem wesentlich der moralische Universalismus des Christentums gehört: Die Liebesbotschaft Jesu Christi betrifft das Wohl aller Menschen und soll allen Menschen zuteil werden. Eine in diesem Sinne universalistische Aufgabe kann durch eine zu große Nähe zu den herrschenden politischen Institutionen in einem Staat verfehlt werden.
Frage: Besteht dabei nicht die Gefahr, dass die Kirche nur noch als Moralagentur wahrgenommen wird?
Joas: Eine Konzentration auf Moral ist in der Tat höchst problematisch und unglaubwürdig, wenn sie selektiv geschieht. Ich halte es auch für fragwürdig, wenn die Kirche ihre Daseinsberechtigung darin sieht, für den moralischen Zusammenhalt der Gesellschaft zu sorgen.
Frage: Was ist dann ihre Aufgabe?
Joas: Ihre Botschaft ist nicht vorrangig eine moralische. Sie geht von einem Ideal aus, das begeistert. Moral ist eher restriktiv, Ideale dagegen sind attraktiv. Christen sind Menschen, deren Lebensgefühl durchdrungen ist von der Erfahrung, dass Gott die Menschen liebt und Jesus Christus diese göttliche Liebe in Menschengestalt verkörpert. Das setzt nicht die Forderungen der Gerechtigkeit oder politischen Klugheit außer Kraft, geht aber über diese hinaus. Entscheidend muss der Geist des Universalismus und der Liebe sein.
Frage: Sie haben als Delegierter am kirchlichen Reformprozess des Synodalen Weges teilgenommen. Können Reformen allein die Krise der Kirche überwinden?
Joas: Nein, allein nicht. Sie können dazu aber den Weg ebnen. Für eine Erneuerung braucht es die kollektive Erinnerung daran, was das Entstehen der Kirche überhaupt ermöglicht hat. Ich wünsche mir eine Kirche, die vom Glauben begeistert ist, die global orientiert ist, kompromissfähig und auch bereit, von anderen Traditionen zu lernen, christlichen, anders religiösen und säkularen.