Nach AfD-Abstimmung und Kirchen-Streit unter Merz: Quo Vadis, Union?
Walter Lübcke war ein aufrechter, mutiger Christdemokrat. Bei einer Bürgerversammlung zur einer Flüchtlingsunterkunft antwortete er auf gezielte Stör-Rufe von Anhängern des Kasseler Pegida-Ablegers: "Es lohnt sich in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist." Er lobte die Zusammenarbeit mit den "Kirchen, die eine Wertevermittlung" leisteten. Nach einer Hetzkampagne in "sozialen Medien" mit Videoclips, bei der auch eine frühere CDU-Abgeordnete, die 2022 der AfD beitrat, mit schürte, wurde Lübcke im Juni 2019 von einem Rechtsextremisten auf seiner Terrasse per Kopfschuss regelrecht hingerichtet. Kontakte des Täters zur AfD, für die er 2018 Plakate geklebt und früher schon gespendet hatte (Verwendungszweck: "Wahlkampfspende 2016 Gott segne euch"), dürften seine Radikalisierung begünstigt haben.
Entgegen seinen bisherigen Beteuerungen versuchte Friedrich Merz ausgerechnet mit den Stimmen dieser Partei einen Coup im Wahlkampf zu landen: Getragen von der Empörungswelle nach der schrecklichen Mordtat von Aschaffenburg wollte er der Ampel-Restregierung, sofern sie jetzt nicht CDU/CSU-Willen exekutiere, eine Niederlage im Parlament beibringen – beim selben Thema, das Walter Lübcke das Leben kostete: Flüchtlinge. Und ausgerechnet nach dem Auschwitz-Gedenken im Bundestag fand der erste Akt des Schmierentheaters statt: Während der Unions-Fraktionschef für sich selbst eine Gewissensentscheidung in Anspruch nahm, hatten seine Fraktionsmitglieder unter einem kurz vor der Wahl besonders starken Druck von Fraktionsdisziplin abzustimmen. Nur wenige, davon fast alle aus dem Bundestag ausscheidend, folgten Merz nicht und blieben der Abstimmung fern; allein die Thüringer Abgeordnete Antje Tillmann stimmte beim ersten, rechtlich unverbindlichen Entschließungsantrag mit Nein.
Christliche Bezüge im neuen Grundsatzprogramm geschleift
Erstmals hat die Union am Mittwoch im Bundestag also eine gemeinsame Mehrheit mit einer in großen Teilen rechtsextremistischen Partei herbeigeführt. Der Initiator besaß die Chuzpe, danach zu behaupten: "Wenn es hier heute eine solche Mehrheit gegeben hat, dann bedaure ich das." Wie Maria Theresia: "Sie weinte, aber nahm", verspottete Friedrich der Große nach der ersten Teilung Polens deren Skrupel wegen Österreichs Beute. Die Monarchin soll gehadert haben: "Gott gebe, dass ich mich nicht einst im Jenseits dafür verantworten muss." Aber ist Friedrich der Christdemokrat für Sorgen vor dieser letzten Rechenschaft empfänglich? Christliche Begriffe und Bezüge im neuen CDU-Grundsatzprogramm ließ er durch seinen General Linnemann und Vordenker Rödder schleifen, Verweise des alten Grundsatzprogramms auf die "christliche Sozialethik" tilgen und eine "bürgerliche" Zweitidentität der CDU erfinden.
Diese passt allerdings nicht zum zügellosen, polemischen Habitus der Merzianergarde und ihrer teils kaum noch von AfD-Accounts zu unterscheidenden Parteisoldaten auf Social Media. Manche von ihnen propagieren schon offen eine Minderheitsregierung mit der FDP (oder auch ohne), wobei man auch um AfD-Stimmen werben und faktisch verhandeln müsste. Bei Flucht und Asyl wollten Unionisten keine "Ausreden mehr hören, wegen irgendeines 'Scheiß-Gerichts' gehe dies nicht, oder wegen des Europarechts und der Genfer Flüchtlingskonvention gehe jenes nicht", berichtete "Die Zeit". Da erscheint der Weg zu Trumps Justizverachtung ("a so called judge") plötzlich nicht mehr weit. Am Freitag schwärmte ein Influencer mit CSU-Parteibuch im Springer-Sender "Welt-TV", durch Trumps Amtsantritt sei "das Land vom einen Tag auf den anderen zur Ruhe gekommen". Das schien selbst dem Moderator des rechten Senders etwas zu simpel.

Donald Trump hatte die anglikanische Bischöfin Mariann Edgar Budde nach deren Predigt als "linksradikale" Trump-Hasserin bezeichnet. Auch in Deutschland kommt Kirchenhass nicht mehr nur von der AfD.
Gegen Bischöfin Mariann Budde, die bei Trumps Amtseinführung um Barmherzigkeit für Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus und ihre verängstigten Kinder gebeten hatte, wetterte der US-Präsident: die "sogenannte Bischöfin" sei eine "linksradikale" Trump-Hasserin und müsse sich entschuldigen. Auch in Deutschland kommt Kirchenhass nun nicht mehr nur von AfD-Funktionären. Nach der kritischen Stellungnahme der Hauptstadtbüros von EKD und Deutscher Bischofskonferenz zum von der Union geplanten "Zustrombegrenzungsgesetz" (Was für ein Wort!) wüteten Parteimitglieder im Netz gegen die Kirchen und prahlten mit ihrem beabsichtigten Kirchenaustritt. Der stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende Steffen Bilger antwortete auf einen Tweet Robin Alexanders zur Parteinahme der Kirchen für Flüchtlinge und ihre Familien: "Überrascht nicht, interessiert nicht". Solche Arroganz und Wurstigkeit führender CDU/CSU-Funktionäre gegenüber den christlichen Kirchen ist von einer neuen Qualität. Sie sollte auch jene Bischöfe aufhorchen lassen, die den migrationspolitischen Kurs der Merz/Söder-Union nicht mit kirchlichem Einspruch im Wahlkampf konterkarieren wollten.
Um ostentativ "romtreue" Bischöfe sollte es sich dabei eigentlich nicht handeln, wenn man an die scharfen Ermahnungen des Papstes in der Sache denkt. Wer als Oberhirte sonst gern auf Treue zum Katechismus der Katholischen Kirche (1992) pocht, hätte dessen Ziffer 2241 gerade gegenüber Politikern mit "C"-Anspruch geltend zu machen: "Die wohlhabenderen Nationen sind verpflichtet, so weit es ihnen irgend möglich ist, Ausländer aufzunehmen, die auf der Suche nach Sicherheit und Lebensmöglichkeiten sind, die sie in ihrem Herkunftsland nicht finden können." Während hier noch unterschiedliche Einschätzungen des "irgend Möglichen" denkbar sind, ist nach der kategorischen Warnung des einstimmig verabschiedeten Wortes der deutschen Bischöfe: "Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar" ein Zusammenwirken christlicher Parteien mit Rechtsextremisten in keinem Fall zu rechtfertigen, jedenfalls solange es demokratische Parteien für Regierungsbündnisse und parlamentarische Kompromisse in der Sache gibt.
Auch wer demokratische Konkurrenten mit dem möglichen Rückgriff auf Stimmen menschenverachtender Extremisten gefügig machen will, handelt schon unmoralisch. Anschließend zu heucheln, eine solche Allianz habe man gar nicht gewollt, macht die Sache noch abstoßender. Und gewissenhaft abwägende Abweichler als "Verräter" anzuprangern wie manche Eiferer des rechten Parteiflügels, lässt ebenso Böses für die weitere Entwicklung unserer politischen Kultur erahnen wie die Schmähungen enthemmter Jungkonservativer gegen protestierende Holocaustüberlebende oder gegen Michel Friedman, der die CDU aus Protest verließ.

Wenn die Union in Umfragen jetzt nicht absackt, werden Merz und seine Führungsblase die Devise "Weiter so!" ausgeben, prognostiziert Andreas Püttmann.
Friedrich Merz und die Unionsparteien – die CSU-Abgeordneten stimmten geschlossen dem Gesetzentwurf zu – haben durch diesen Wortbruch und die unheilige Allianz im Bundestag das Vertrauen in ihr Versprechen verspielt, nach der Wahl in keiner Weise mit der AfD zu kooperieren. Ihre Niederlage in der zweiten Abstimmung, zu der sogar mehr als ein Viertel der FDP-Abgeordneten beitrug, ist schon wegen der demokratischen Kollateralschäden als "verheerend" bezeichnet worden. Tatsächlich wäre sie eine Chance zur Besinnung. Doch der Unions-Kanzlerkandidat lässt sich weder vom Jubel der Rechtsradikalen am Mittwoch noch von seiner Bruchlandung am Freitag beeindrucken, und die nachvollziehbare Intervention der ansonsten sehr zurückhaltenden Altkanzlerin wird einen Mann des "All in" mit kurzer Zündschnur und Vergangenheit als dritte Wahl im CDU-Vorsitz eher noch anspornen als zum Nachdenken veranlassen. Wenn die Union in Umfragen jetzt nicht absackt, werden er und seine Führungsblase die Devise "Weiter so!" ausgeben. Platz 1 bei der Wahl ist der Union ja schon so gut wie sicher. Aber die Möglichkeit einer Zweierkoalition könnte sie sich mit diesem nutzlosen Manöver verstellt haben – mit dem staatspolitischen Schaden einer weiteren komplizierten Regierungsbildung und folgender Streitigkeiten.
Zu den Unions-Abweichlern im Parlament wurde angemerkt, dass sie überdurchschnittlich kirchennah seien. Das wundert nicht, denn sowohl in der Sache Flucht, Migration und Integration als auch in der Abgrenzung zum politischen Extremismus bleibt Kirchennähe in normativer und empirischer Hinsicht ein relevanter Faktor in Deutschland. Wenn die aktuelle Unionsführung meint, auf ihre christliche Kernwählerschaft wegen deren Schrumpfung keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen und kirchliche Positionen als irrelevant abtun zu können, dann kalkuliert sie wohl, damit nur wenige Prozente an Zustimmung riskieren. Da aber 28 Prozent aller Unionsanhänger Merz’ Vorgehen ausdrücklich missbilligen, könnte sich ein doch erheblicher Teil einer anderen demokratische Partei zuwenden, und sei es nur taktisch um des gesamtpolitischen Gleichgewichts willen.
"C" war Handlungsmotiv der Gründer von CDU und CSU
Christen werden aufhorchen, wenn der AfD-Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann im Bundestag brüllt: "Erlösen kann Deutschland nur die AfD!" Faschismus inszeniert sich halt immer wieder als Ersatzreligion. Kein Wunder, dass Kirchen da den Brandgeruch der Hölle am sensibelsten riechen. Aber auch mit der Seele der Unionsparteien sind antifaschistische Impulse verbunden, seit christliche Widerständler ihr Leben im Kampf gegen Hitler opferten und riskierten. "Antifaschisten bekennt Euch und kommt zur christlich-demokratischen Union Deutschland", hieß es auf einem frühen Plakat 1946 in der Sowjetisch Besetzen Zone.
Nachdem sich der Rechtskonservatismus der Weimarer Parteien DNVP und DVP, die ab 1930 zur NSDAP hin schmolzen wie Schnee unter der Sonne, moralisch diskreditiert hatte, ordneten sich Vertreter dieser Strömungen ab 1945 in der CDU dem dominanten Zentrums-Wurzelstrang ideell unter, der etwa die Hälfte der Sprecher ihrer regionalen Neugründungen stellte. Das "C" war Handlungsmotiv der Gründer von CDU und CSU und Kompass ihrer Parteiprogramme. Wer es heute durch mangelnden Widerstand gegen die rechtsradikale Welle in der westlichen Welt verrät und zum nationalistischen Konservatismus oder wirtschaftsnahen Rechtsliberalismus von DNVP und DVP zurück will, der muss wissen, dass er damit die Unionsparteien zerstört. Er sollte so ehrlich sein auf das "C" zu verzichten, statt im Wahlkampf in kirchlichen Milieus damit hausieren zu gehen. Er kann sich ja dann an den radikalisierten britischen Tories orientieren, die gerade von den Rechtspopulisten überflügelt werden. Andere C-Parteien in Europa sind schon untergegangen oder zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft, nachdem ihr Fundament erodiert war. Auch für CDU und CSU stellt sich nun schärfer den je die Frage: Quo vadis?
Der Autor
Andreas Püttmann lebt als Politikwissenschaftler und freier Publizist in Bonn. Der Katholik war zeitweise unter anderem für die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung tätig.