Papst sah keinen Grund für Anklage

Magazin: Weiterer Missbrauchsvorwurf gegen Kardinal Ouellet

Veröffentlicht am 20.01.2023 um 12:19 Uhr – Lesedauer: 

Paris/Québec ‐ Kurienkardinal Marc Ouellet wird in einer Sammelklage in Kanada übergriffigen Verhaltens beschuldigt. Der Vatikan sah keine Anhaltspunkte für ein Verfahren. Nun veröffentlicht ein Magazin einen weiteren Vorwurf – mit dem Rom ähnlich umging.

  • Teilen:

Gegen Kurienkardinal Marc Ouellet hat es einem Medienbericht zufolge eine weitere Beschwerde wegen Übergriffen aus seiner Zeit als Erzbischof von Québec gegeben. Das französische Wochenmagazin "Golias Hebdo" veröffentlichte am Mittwoch eine Recherche zu den Vorwürfen gegen den Präfekten des Bischofsdikasteriums. Laut dem Magazin hatte eine Frau im August 2020 eine Beschwerde an den derzeitigen Erzbischof von Québec, Gérald Lacroix, gerichtet und auf dessen Bitte hin ein Jahr später auch den Vatikan informiert. In dem Bericht wird die Frau mit dem Namen Marie bezeichnet. Details zu den Vorwürfen wurden nicht veröffentlicht. Sie sollen jedoch "weitaus schwerwiegender" als die bislang bekannten Vorwürfe sexueller Belästigung sein. Papst Franziskus selbst habe entschieden, die Vorwürfe nicht weiter zu verfolgen.

Das Magazin veröffentlichte eine Kopie des Schreiben, mit dem Lacroix im Juni 2021 die Betroffene über die Entscheidung von Papst Franziskus informiert. Der Papst habe eine Voruntersuchung nach dem in den Verfahrensregeln für die Ermittlung gegen Bischöfe, "Vos Estis Lux Mundi", vorgesehenen Verfahren ohne direkte oder indirekte Beteiligung der Erzdiözese Québec durchführen lassen, heißt es. Nach Abschluss des Verfahrens sei er zu dem Schluss gekommen, das gegen den Kardinal erhobene Verfahren nicht aufrechtzuerhalten, da er keine Anhaltspunkte sieht, die eine Anklage rechtfertigen würden.

Auch im Fall Marie ermittelte Ouellet-Vertrauter

Laut "Golias Hebdo" ist die Untersuchung wie im Fall von Pamela Groleau von dem Jesuitenpater Jacques Servais geleitet worden. Aus einer E-Mail, die Servais im Zuge der Untersuchung an einen Vertrauten der Betroffenen geschrieben haben soll, geht hervor, dass der Untersuchungsführer anscheinend vor allem Nachforschungen zur geistigen Gesundheit der Betroffenen angestellt hat. "Angesichts der Schwere der in der betreffenden Erzählung enthaltenen Anschuldigungen und des Fehlens einer anderen Zeugenaussage als der einer offensichtlich kranken Person habe ich versucht, herauszufinden, ob Maries Familie von der dem Heiligen Vater übermittelten Beschwerde wusste, ob sie beteiligt war, oder ob im Gegenteil, wie zu befürchten war, diese kranke Person von einer von politischen Interessen geleiteten Lobbygruppe manipuliert wurde", zitiert das Magazin.

Aus der Recherche gehen außerdem weitere Details zum Fall von Groleau hervor. Der Name der Betroffenen ist erst seit kurzem bekannt, als sie selbst entschieden hatte, in die Öffentlichkeit zu gehen. Zuvor hatte Ouellet eine Klage auf Schadensersatz wegen Verleumdung gegen sie eingereicht. Laut "Golias Hebdo" sei ihr die Klage vor der Offenbarung ihrer Identität persönlich unter ihrem tatsächlichen Namen zugestellt worden, obwohl er aus den Akten der Sammelklage, an der sie beteiligt ist, nicht hervorgehe. Das Magazin sieht darin einen möglichen Bruch der Vertraulichkeitsverpflichtung, die die kirchliche Ermittlungsordnung vorsieht. Im Dezember hatte die unabhängige Ombudsfrau der Erzdiözese Québec bereits in einem Bericht festgestellt, dass ein hochrangiger Kleriker vertrauliche Informationen aus Beschwerden über Missbrauch unerlaubt an Dritte weitergegeben habe.

Sammelklage beschuldigt 88 Kleriker

Im vergangenen August wurde bekannt, dass sich über 100 Betroffene sexuellen Missbrauchs in der Kirche einer Sammelklage in Kanada angeschlossen haben. Beschuldigt werden 88 Kleriker. Die meisten der mutmaßlichen Taten sollen in den 1950er- und 1960er-Jahren stattgefunden haben. Ouellet ist den Angaben zufolge der prominenteste unter den Beschuldigten. Von Anfang an wies er die Vorwürfe zurück. Mit der kirchenrechtlichen Voruntersuchung gegen den jetzigen Präfekten der Bischofskongregation beauftragte Papst Franziskus den Jesuiten Jacques Servais, einen langjährigen Vertrauten Ouellets, der keine juristischen oder kirchenrechtlichen Qualifikationen hat. Die Voruntersuchung habe "keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Eröffnung einer kanonischen Untersuchung wegen sexueller Nötigung von Kardinal Ouellet gegen Person F" ergeben, teilte Vatikansprecher Matteo Bruni kurz nach Bekanntwerden der Sammelklage mit. Gegenüber katholisch.de schätzte der Tübinger Kirchenrechtler Bernhard Sven Anuth anhand der öffentlich bekannten Darstellungen die Sachlage so ein, dass die dem Kardinal vorgeworfenen unerwünschten Berührungen, Umarmungen, Massagen und Küsse zum mutmaßlichen Tatzeitpunkt als Zölibatsverstoß, nicht aber als Straftat nach dem Kirchenrecht eingeordnet werden können.

Ouellet ist seit 2010 Präfekt des jetzigen Bischofsdikasteriums und Mitglied der Priestergemeinschaft der Sulpizianer. Nach Lehraufträgen in Dogmatik, zuletzt an der Päpstlichen Lateranuniversität in Rom, ernannte ihn Papst Johannes Paul II. 2001 zum Sekretär des Päpstlichen Rates für die Förderung der Einheit der Christen. 2002 wurde er Erzbischof von Quebec und 2003 zum Kardinal erhoben. Papst Benedikt XVI. holte Ouellet 2010 als Kardinalpräfekt zurück an die Kurie. Als Leiter des Bischofsdikasteriums, das unter anderem für die Auswahl von Bischofskandidaten zuständig ist, ist Ouellet einer der einflussreichsten Kardinäle an der Kurie. Der 78-jährige galt zeitweise als aussichtsreicher Kandidat für eine Papstwahl. In jüngster Zeit wurde erwartet, dass er im Zuge der Umsetzung der Kurienreform bald an der Spitze des Bischofsdikasteriums abgelöst werde. (fxn)