Italien sucht Antworten auf wachsende Armutsmigration

"Die Leute werden kommen"

Veröffentlicht am 15.06.2014 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Italien

Rom ‐ Oliviero Forti ist ein erfahrener Mann auf seinem Gebiet, ein Profi der Soforthilfe. Doch eine solche Woche hat der Leiter des Migranten-Büros der italienischen Caritas noch nicht erlebt. "Im Moment droht uns die Kontrolle zu verlieren. So einen Ansturm gab es noch nie." Fast 10.000 Bootsflüchtlinge haben Marineeinheiten und Handelsschiffe binnen sieben Tagen aus dem Mittelmeer gerettet und in sizilianische Häfen gebracht.

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Die meisten kommen aus Nord- und Schwarzafrika, Somalia und Eritrea, und immer häufiger sitzen auf den überfüllten Schlauchbooten und Holzkuttern Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien. Es wächst der Anteil der Frauen und Kinder. Forti meint: "Die Elendsmigration nach Europa bekommt erst jetzt ihre volle Dynamik. Die Leute werden kommen."

Fast genau ein Jahr ist es her, dass Papst Franziskus mit seiner Reise nach Lampedusa die Aufmerksamkeit der Welt auf die Tragödie im Mittelmeer lenkte. Stunden vorher war wieder ein maroder Kahn auf der italienischen Insel gelandet. Vor Flüchtlingen und Einheimischen prägte Franziskus das Wort von der "Globalisierung der Gleichgültigkeit" und erinnerte mit einem Kranzwurf ins Meer an die vielen, die bei der Fahrt von Libyen und Tunesien aus ertrinken. "Wir haben uns an das Leiden des anderen gewöhnt, es betrifft uns nicht, es interessiert uns nicht, es ist nicht unsere Sache", sagte Franziskus bei der Messe auf dem Sportplatz des Eilands.

Die Mehrheit der Flüchtlinge taucht im Land unter

Doch der päpstliche Appell habe nichts verändert, so Caritas Italien unlängst. Die Lage werde immer schwieriger. Seit Jahresbeginn haben 52.000 Armutsmigranten Italien erreicht, 10.000 mehr als im gesamten Vorjahr. Sizilianische Bürgermeister riefen in dieser Woche nach der Verhängung des Notstands. Das römische Innenministerium antwortete mit der fieberhaften Suche nach Schlafplätzen in Turnhallen und Gemeindesälen. Doch für wen? 30.000 Flüchtlinge sind laut italienischen Medienberichten seit Jahresbeginn im Land untergetaucht. Offenbar teils sogar mit Billigung der Behörden. Vor wenigen Tagen protestierte das UN-Flüchtlingshilfswerk, weil 330 Menschen auf Parkplätzen nahe Rom und Mailand schlichtweg ausgesetzt wurden - von der italienischen Polizei.

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Video: © Gottfried Bohl

Papst Franziskus besucht die Flüchtlingsinsel Lampedusa.

"Die meisten Migranten wollen gar nicht in Italien bleiben, sondern weiter nach Deutschland oder bis nach Schweden . Weil sie dort Verwandte haben oder die Bedingungen für Asylsuchende in diesen Ländern besser sind", erklärt Forti die "Entsorgung". Zwar besteht die Dublin-II-Verordnung der EU, wonach Asylsuchende in das Land zurückgeschickt werden sollen, in dem sie zuerst europäischen Boden erreichten. Abgeschoben würden indes nur wenige Bootsflüchtlinge, schon gar nicht in Krisengebiete wie Syrien, Somalia oder Mali. "Doch die allermeisten fliehen nicht vor politischer Verfolgung, sondern vor der Armut", so der Caritas-Verantwortliche. Alle hofften auf einen Job, eine gute Ausbildung hätten die wenigsten.

Humanitäre Aktion kostet Italien 9 Millionen Euro im Monat

Der Andrang heizt die Attacken der italienischen Rechten auf die Operation "Mare Nostrum" weiter an, den Dauer-Rettungseinsatz von Marine und Küstenwache. Die humanitäre Aktion ist aus ihrer Sicht zum "Fährbetrieb" für illegale Einwanderer geworden, der das Krisenland Italien 9 Millionen Euro im Monat kostet und das Geschäft der Menschenschmuggler erst so richtig auf Touren gebracht hat. "Es stimmt, dass die Aussicht auf fast sichere Rettung jetzt immer mehr Flüchtlinge anzieht", räumt Forti ein. Die Alternative zu "Mare Nostrum" ist allerdings auch klar: noch mehr Ertrunkene zwischen Libyen und Sizilien.

So sah es am Donnerstag auch der Senat in Rom und blockte einen Antrag der Rechtsparteien Lega Nord und Forza Italia ab, die Operation einzustellen. Die Kammer pochte jedoch auf Forderungen an die Regierung, mehr europäische und internationale Beteiligung an der Rettung und Aufnahme der Migranten zu verlangen. Notwendig wäre auch eine bessere Zusammenarbeit mit den Transitländern, meint Oliviero Forti, um Flüchtlingen Hilfe anzubieten, bevor sie sich den Schleppern in die Arme werfen. Vor allem mit Libyen. Doch dort herrschten Chaos und Gewalt. Wer es einmal bis dorthin geschafft habe, denke erst recht nur noch an das nächste Boot.

Von Christoph Schmidt (KNA)