Ist Angela Merkels Privatsphäre mehr wert als die des gemeinen Bürgers?

Frau Merkel und Herr Meier

Veröffentlicht am 25.10.2013 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Ethik

Bonn ‐ Der US-amerikanische Geheimdienst NSA soll das Handy von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ausspioniert haben. Die Empörung über den mutmaßlichen Lauschangriff ist groß im politischen Berlin. Doch warum ist sie es erst jetzt? Schließlich wurde bereits im Sommer vermutet, dass die NSA in Deutschland täglich rund 20 Millionen Telefonverbindungen und zehn Millionen Datensätze aus Internetverbindungen erfasst.

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Doch damals vertraute die Bundesregierung den Angaben von NSA und anderen Geheimdiensten - und erklärte die Affäre vorschnell für beendet. Für die SPD ist heute jedenfalls klar: "Wer die Kanzlerin abhört, der hört auch die Bürger ab." So sagt das zumindest Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann. Doch hätte man im Sommer nicht viel eher fragen müssen: Hört der, der den Bürger abhört, nicht auch die Kanzlerin ab? Und wo ist überhaupt der Unterschied? Ist die Privatsphäre der Kanzlerin schützenswerter als die des Bankers, des Metzgers oder auch des Priesters?

Gleiches Unrecht, andere Wirkung

Diese Frage beantwortet Anton Losinger, Augsburger Weihbischof und Mitglied im Deutschen Ethikrat, eindeutig mit Nein. "Es ist natürlich das gleiche Unrecht, das Handy der Kanzlerin anzuzapfen wie das von Herrn Meier", erklärt er gegenüber katholisch.de. Der Unterschied liege in der Wirkung: "Wenn man die Kanzlerin belauscht oder Industriespionage betreibt, kann das unter Umständen eine ganze Volkswirtschaft gefährden".

Anton Losinger, Weihbischof von Augsburg.
Bild: ©KNA

Anton Losinger, Weihbischof von Augsburg.

Daher fordert Losinger, nun Konsequenzen zu ziehen: "Es muss ein deutliches Wort an die Amerikaner ergehen". Zwischen freiheitlichen, demokratischen Rechtstaaten könnte auch nach einem Konflikt wieder ein vertrauensvoller Kontakt entstehen. In der aktuellen Affäre sieht Losinger aber auch etwas Positives: "Wir sollten dankbar sein, dass der Fokus jetzt auf die wichtigen Fragen rückt, und das mit Nachdruck".

Amerikanische Krokodilstränen

Denn noch vor wenigen Wochen sah das anders aus. Verdächtigungen gegenüber der NSA wurden als "nicht haltbar" abgetan. "Der Vorwurf der vermeintlichen Totalausspähung in Deutschland ist nach den Angaben der NSA, des britischen Dienstes und unserer Nachrichtendienste vom Tisch", sagte damals Kanzleramtschef Ronald Pofalla (CDU). Und: Es gebe in Deutschland keine millionenfache Grundrechtsverletzung. Unterstützung erhielt Pofalla dabei von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CDU), der behauptete, dass alle Verdächtigungen, die erhoben wurden, ausgeräumt seien.

Angesichts der Diskrepanz zwischen den damaligen Aussagen und der jetzigen aufgeregten Debatte reiben sich Beobachter verwundert die Augen – so auch Anton Losinger. "Ich habe den Krokodilstränen der Amerikaner nie geglaubt", sagt er. Wer angesichts der technischen Möglichkeiten noch immer glaube, es herrsche keine "Rundumoberservierung", der gebe sich einer Illusion hin. "Die Durchsichtigkeit jedes einzelnen Menschen wird immer größer", ist Losinger überzeugt.

Losinger: Keinen Illusionen hingeben

Manchen, möglicherweise auch unbequemen Wahrheiten müsse realistisch ins Auge gesehen werden: "Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass es eine totale Datensicherheit geben wird, man darf sich nicht der Illusion hingeben, einmal veröffentlichte Daten wieder zurückholen zu können und man darf sich auch nicht der Illusion hingeben, dass die ständig wachsende Flut von Daten jemals wieder eingedämmt werden kann", diagnostiziert er.

Auf einer höheren Ebene zeigt die aktuelle Debatte zudem einen grundsätzlichen Konflikt zweier Werte: Welchen Teil ihrer Privatsphäre müssen die Menschen um den Preis ihrer Sicherheit aufgeben? "Sicherheit und Privatheit sind zwei komplementäre Werte geworden", meint dazu Weihbischof Losinger. Bei besonderen Herausforderungen für die Sicherheit von Staaten sei es unter Umständen durchaus gerechtfertigt, die private Freiheit einzuschränken – umgekehrt sei sie aber einer der demokratischen Grundwerte schlechthin. "Es geht darum, beide Werte miteinander auszutarieren", so Losinger.

Von Björn Odendahl und Gabriele Höfling