"Zu kurz gesprungen"

Frage: Herr Hensel, das Betreuungsgeld ist jetzt etwa ein Jahr alt. Es sollte vor allem den Müttern mehr Wahlfreiheit in Sachen Erziehung ermöglichen. Ist dieses Ziel erreicht?
Hensel: Das hohe Ziel der Wahlfreiheit konnte mit dieser Ausgestaltung des neuen Betreuungsgeldanspruchs gar nicht erreicht werden, da leider doch zu viele Eltern auf jeden Euro und Cent unmittelbar für die Lebensführung angewiesen sind. Hier bleiben dann also Kinder zuhause, was aber aus der Not geboren und nicht wahlfrei entschieden wird. Viele Mütter und zunehmend auch Väter würden sich sicherlich für den beruflichen Wiedereinstieg gerne mehr Zeit lassen, um des Kindes und ihrer selbst willen. Aber diese innere Entscheidung erwächst wohl kaum aus einem Betreuungsgeldanspruch von bisher 100 Euro im Monat. Auch wenn die Summe aktuell auf 150 Euro erhöht wurde, bleiben die Rahmensetzungen für das Betreuungsgeld insgesamt familienpolitisch zu kurz gesprungen und die ungünstigen Auswirkungen entsprechen ähnlichen Erfahrungen im Ausland.
Frage: Eine Studie hat kürzlich all jenen Recht gegeben, die befürchteten, dass das Betreuungsgeld falsche Anreize setzt. Das Betreuungsgeld hält besonders Menschen aus bildungsfernen Schichten davon ab, Ihre Kinder in eine Kita zu schicken. Ist die Idee gescheitert?
Hensel: Wer sich wegen der 100 oder nun 150 Euro gegen einen Kita-Platz entscheidet, wird offenbar gedrängt von ernstzunehmenden Geldsorgen. Dass finanzielle Schwierigkeiten häufiger mit geringer beruflicher Qualifikation einhergehen, ist ausreichend bekannt und belegt. Insofern bestätigen die Studien der Deutschen Jugendinstituts und der Uni Dortmund einfach diese Realität. Dass Eltern, das Betreuungsgeld als zusätzliches Einkommen vom monatlichen Transferbezug, zum Beispiel Arbeitslosengeld II gleich wieder abgezogen bekommen, ist ohnehin schon eine ungerechte Schieflage in diesem System. Um die Wahlfreiheit armutsbedrohter Eltern ging es also von Anfang an nicht, was mit einer Unterstützung von bestmöglichen Bedingungen für alle Kinder nicht zusammenpasst.
Der Kölner Diözesan-Caritasdirektor Dr. Frank Johannes Hensel.
Um den Gedanken aber zu stärken, dass Eltern sich frei für die bestmögliche Versorgung für ihr kleines Kind entscheiden können, bedarf es der Weiterentwicklung des Betreuungsgeldes. Die Caritas empfiehlt, das derzeitige Elterngeld und das Betreuungsgeld zu einer einkommensunabhängigen Leistung für alle Familien zusammenzuführen. Dabei soll unabhängig von der Art der Kinderbetreuung in den ersten drei Jahren nach der Geburt eines Kindes 300 Euro monatlich tatsächlich ausgezahlt werden – also insgesamt 10.800 Euro pro Kind. Wer kürzer vom Beruf aussetzen möchte, könnte die Leistung auf einen kürzeren Zeitraum konzentrieren, zum Beispiel auf ein Jahr lang 900 Euro im Monat. Dieser Vorschlag eröffnet mehr Wahlfreiheiten für berufstätige Eltern aber auch für arme Familien und setzt unabhängiger von Einkommen und Beruf auf eine verantwortungsbewusste Entscheidungsfähigkeit der Eltern.
Frage: Das katholische Familienbild geht einerseits davon aus, dass Kinder bei ihren Müttern am besten aufgehoben sind. Andererseits ist die Caritas auch Träger von Kitas mit U-3-Betreuung. Sehen Sie da einen Zielkonflikt?
Hensel: Die Bedeutung familiärer Bande und Bindung ist für die frühkindlichen Entwicklung natürlich enorm und lebensprägend. Daneben gab und gibt es schon immer auch andere Formen der Kleinkinderziehung, die die elterliche Erziehung ergänzen und unterstützen oder zeitweise auch ersetzen müssen. Mal sind es die Großeltern oder Geschwister und Freunde, mal Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen oder nach einem alten afrikanischen Sprichwort ein ganzes Dorf. Tageseinrichtungen für Kinder stellen eine Unterstützung und Ergänzung der familiären Bildung, Erziehung und Betreuung dar und sind nicht als Herausnahme aus Familie angelegt. Im Erzbistum Köln sind unsere katholischen Tageseinrichtung für Kinder als wesentlicher Bestandteil von Familienzentren mit gezielten Unterstützungsangeboten auch für Eltern konzipiert. Dieses Merkmal verdeutlicht die Mitsorge für die Kinder und ihr familiäres Umfeld.
„Wir müssen über das Betreuungsgeld diskutieren, weil es bisher offensichtlich seine Zielsetzung – die Wahlfreiheit – nicht erreicht.“
Frage: Was sagt das über die Gesellschaft aus, wenn sie einigen Familien unterstellt, ihre Kinder nicht richtig erziehen zu können?
Hensel: Praktisch allen Müttern und Vätern wohnt der zutiefst natürliche Impuls inne, gut für ihr Kind sorgen zu wollen. Die Unterschiede liegen doch vor allem in der persönlichen Chance, dieser inneren Stimme folgen zu können. Die Debatte um richtige oder falsche Erziehung geht daher nicht tief genug zu den Ursachen für Überforderung und Vernachlässigung, was ja bekanntlich mit Einkommen noch gar nicht mal so viel zu tun hat. Viele Familien und gerade auch viele alleinerziehende Frauen kümmern sich mit sehr bescheidenen Mitteln rührend und bewundernswert um ihre Kinder. Aber es gibt einige sehr handfeste Entwicklungsnachteile, die nicht einfach fortbestehen müssen und die wir ändern können.
Ein Kind, das erst in der Grundschule Deutsch lernt, hat einen Nachteil gegenüber seinen Klassenkameraden. Das sagt noch nichts über die Liebe, Fürsorge und den guten Willen der Eltern aus. Zumal, wenn sie auf die 100 bzw. 150 Euro Betreuungsgeld angewiesen sind, weil ihre Einkommenssituation prekär ist. Es besteht aber ernsthafter entwicklungspädagogischer Anlass einzuladen, zu einem Aufwachsen in Gemeinschaft mit anderen Kindern einschließlich auch individueller Förderungen der sprachlichen und motorischen Entwicklung, da wo es nötig ist. Hier kann sehr viel gewonnen aber auch verpasst werden für ein Aufwachsen in Wohlergehen. Der gesellschaftliche und politische Diskurs um bestmögliche Betreuungsmöglichkeiten und die gerechte Chance zur Wahrnehmung einer verantworteten Entscheidung von Eltern für ihre Kinder ist wichtig. Versorgungsideologische Debatten bringen uns nicht weiter.
Frage: Wäre es nicht sinnvoller, statt über das Betreuungsgeld zu diskutieren, in die Qualität der Kitas zu investieren?
Hensel: Eine Polarisierung zugunsten einer Leistungsform ist nicht zielführend. Wir müssen über das Betreuungsgeld diskutieren, weil es bisher offensichtlich seine Zielsetzung – die Wahlfreiheit – nicht erreicht. Der Deutsche Caritasverband hat ja zu Recht eine Neuordnung des Betreuungsgeldes vorgeschlagen. Daneben ist und bleibt eine Stärkung der Qualität von Kitas eine lohnende Investition in die Zukunft vieler Kinder.
Das Interview führte Michael Richmann