Meine Schwestern

Vielleicht trifft beides zu. Dass die wichtigsten und engsten Beziehungen, die man hat, das sind, was einem am meisten Halt bietet, und doch auch gleichzeitig das, was einem am schwächsten und verletzlichsten macht, ist jedenfalls das zentrale Thema von Lars Kraumes Drama. Um Lindas Beziehung zur Religion geht es dabei nur am Rande; im Zentrum steht ihr Verhältnis zu ihren beiden Schwestern, der älteren Katharina und der jüngeren Clara. Daran, dass seine Hauptfigur totgeweiht ist, lässt Kraume keinen Zweifel: Gleich zu Beginn sieht man, dass Linda während einer Operation stirbt. Es geht in dem Film also nicht darum, um die Protagonistin zu bangen, sondern darum, ihren Prozess des Abschiednehmens zu begleiten.
Obwohl Linda erst Mitte Dreißig ist, kommt ihr Ende nicht wirklich vorzeitig, sondern unerwartet spät: Wegen ihres angeborenen Herzfehlers hatten ihr die Ärzte nur wenige Lebensjahre prophezeit, aus denen dann wider Erwarten doch ein halbes Leben wurde. Von ihrer Bahre aus führt ihre Off-Stimme den Zuschauer zurück in die letzten Tage ihres "geschenkten" Lebens, die der jungen Frau vor ihrem Tod noch bleiben. Linda will diese Zeit nicht mit ihrem Ehemann verbringen, sondern mit ihren beiden Schwestern, und zwar in Tating an die Nordsee, wo ihre Familie während der Kindheit der Mädchen stets die Urlaube verbrachte.
Letzte Tage mit zwei sehr unterschiedlichen Frauen
Das Treffen der Schwestern an der Nordsee.
Das Trio mietet sich in der Pension ein, die die Schwestern noch aus Kindertagen kennen, und lässt am Meer und in der Disko alte Tage wieder aufleben, aber auch aktuelle Sorgen, Spannungen und Lasten an die Oberfläche dringen. Schließlich beschließen die drei spontan, den gemeinsamen Ausflug noch etwas weiter auszudehnen, und nehmen den Nachtzug nach Paris, um dort eine Tante und deren Mann zu besuchen. Sind die drei Schwestern sich auch sehr nah, so sind sie doch alles andere als ein Herz und eine Seele, sondern drei sehr unterschiedliche Frauen, die alle auf ihre Weise mit sich und den anderen und ihrer Rolle innerhalb des Familienverbandes durchaus nicht im Reinen sind.
Lars Kraume hat, um diese starken Figuren glaubwürdig zu gestalten, seinen Film zusammen mit seinen drei Hauptdarstellerinnen entwickelt; gedreht wurde in chronologischer Reihenfolge, um eine Szene jeweils aus dem ganzen Vorwissen um die Situation, aus der die Figuren gerade kommen, zu gestalten. Dass hier die Schwestern ganz im Zentrum stehen, betont auch die Inszenierung, die sich für die durchaus fotogenen Settings – die Nordseeküste, Paris – und auch die Nebenfiguren nur insofern interessiert, als sich die Schwestern ins Verhältnis zu ihnen setzen.
Tolle Darstellerinnen arbeiten dunkel und hell getönte Gefühle aus
Die Anziehungen und Abstoßungen, die Vertrautheit und die Fremdheiten zwischen den Schwestern, die komplexen, ambivalenten, von der frühesten Kindheit an gewachsenen Verflechtungen aus dunkel und hell getönten Gefühlen, die sie verbinden, werden mit größter Sensibilität heraus gearbeitet. Und mehr als die Worte der Frauen erzählen dabei die Gesichter, die Blicke und Gesten des furios aufspielenden Darstellerinnen-Trios und die Art und Weise, wie die Kameraarbeit und die Montage ihre Beziehungen zueinander orchestrieren.
"Meine Schwestern" ist kein bittersüßes, kathartisch-erbauliches Sterbedrama, das seine Figur kurz vor ihrem Ende noch einmal alte Rechnungen begleichen, Dinge in Ordnung bringen und innerlich reifen lässt. Das Leid, das Lindas Tod für sie selbst und für ihre Schwestern bedeutet, erfährt hier keine Apotheose; und auch die Spannungen zwischen den Schwestern werden nicht rückstandslos aufgelöst. Das macht diesen leisen, offenen Film sehr schmerzhaft. Gleichzeitig möchte man aber die Zeit, die man mit den glaubwürdigen, eindringlichen Figuren verbracht hat, jedoch genauso wenig missen wie die drei Schwestern ihr letztes gemeinsames Wochenende.
Von Felicitas Kleiner