Von einem Privileg und einer Verwechslung

Ein besonderes liturgisches Kleidungsstück: Das Rationale

Veröffentlicht am 23.06.2024 um 12:15 Uhr – Von Fabian Brand – Lesedauer: 

Bonn ‐ Nur zwei deutsche Bischöfe dürfen über ihrem Messgewand ein besonderes liturgisches Kleidungsstück tragen: das Rationale. Es ist aus einem Kleidungsstück des alttestamentlichen Hohepriesters entstanden und war im Mittelalter ein Ehrenzeichen der Bischöfe. Heute ist es fast wieder verschwunden.

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"Nimm hin das Rationale, das Ehrenzeichen der Bischöfe von Paderborn. Es weist hin auf den Auftrag des Bischofs, die Wahrheit des Glaubens zu hüten und sie dem Volk zu verkünden": Mit diesen Worten überreichte der Dompropst am 10. März dem neuen Paderborner Erzbischof Udo Markus Bentz ein besonderes liturgisches Kleidungsstück. Das sogenannte "Rationale", das über dem Messgewand getragen wird und allein deshalb außergewöhnlich ist, weil es nur einer Handvoll Bischöfen zusteht. Wer das Rationale also bei seinem eigenen Diözesanbischof sucht, wird in den meisten Fällen enttäuscht werden. In Deutschland darf es neben dem Erzbischof von Paderborn nur noch der Bischof von Eichstätt tragen. Doch wo hat dieses außergewöhnliche Kleidungsstück seinen Ursprung? Was ist die Symbolik, die dahintersteht? Und warum dürfen nur noch zwei deutsche Bischöfe das Rationale tragen?

Eine erste Spur führt in das Alte Testament: Im Buch Exodus werden nämlich die Gewänder beschrieben, die dem Hohepriester zustehen. Und dort heißt es unter anderem, man benötige "Karneolsteine und Ziersteine für Efod und Brusttasche" (Ex 25,7). Und weiter heißt es: "Das Efod sollen sie als Kunstwebearbeit herstellen, aus Gold, violettem und rotem Purpur, Karmesin und gezwirntem Byssus" (Ex 28,6). Efod und Choschen, wie die Brusttasche auf Hebräisch genannt wird, sind beides Kleidungsstücke des aaronitischen Hohepriesters. Während man sich unter dem Efod ein langes, kostbares Gewand vorstellen kann, ist die Beschreibung des Choschen etwas komplizierter: Es stellt eine Art Brustschild dar, das über die Schultern gelegt wird. Es "soll quadratisch sein, zusammengefaltet, eine Spanne lang und eine Spanne breit" (Ex 28,16). Die Verzierung des Choschen stellen zwölf unterschiedliche Edelsteine dar, welche die zwölf Stämme Israels symbolisieren. Das Choschen wird dabei über dem Efod getragen und dem Hohepriester über die Schultern angelegt.

Als die Bibel später ins Lateinische übersetzt wurde, musste man auch die beiden hebräischen Begriffe für die Kleidungsstücke des Hohepriesters übertragen. Für das hebräische Wort Efod wählte man den lateinischen Begriff "Superhumerale". Frei übersetzt könnte man sagen, man bezeichnet damit etwas, das "über die Schultern" geworfen oder getragen wird. Um das Choschen zu beschreiben, nutzte man das Lateinische "Rationale", welches eine Verbindung zur Weisheit (lateinisch "ratio") ausdrückt. Um diese Wortherkunft zu erläutern, muss man noch einen Schritt zurückgehen, denn bevor die Bibel ins Lateinische übertragen wurde, übersetzte man die Schriften des Alten Testaments ins Griechische. Und schon dort übertrug man das Hebräische "Choschen" mit dem griechischen Wort "logion", was man im weitesten Sinne auch als "Weisheit" übersetzen kann. Auf dem griechischen Wort "logion" aufbauend wurde daraus schließlich im Lateinischen "rationale". Beide Begriffe bezeichnen also etwas, das mit Weisheit oder Klugheit zu tun hat. Schon Isidor von Sevilla, der um 633 gestorben ist, weiß um die Unterscheidung zwischen Rationale und Superhumerale, um damit zwei unterschiedliche Kleidungsstücke des Hohepriesters zu benennen.

Bild: ©picture alliance/Artcolor

Dieses Rationale der Bischöfe von Eichstätt wurde um 1750 geschaffen.

Interessant ist, dass man in Deutschland den Schulterumhang der beiden Bischöfe von Paderborn und Eichstätt als Rationale bezeichnet. Folgt man der Begriffsentstehung genau, so müsste man diesen Überwurf doch eher als Superhumerale bezeichnen. Auch das Efod, auf das das Wort Superhumerale hinweist, war doch ein Schulterschmuck, während das Choschen eher ein gewandähnliches Kleidungsstück bezeichnet. Interessanterweise stehen beide Begriffe – Superhumerale und Rationale – heute nebeneinander und werden teils synonym verwendet. Sie meinen dann jenen Überwurf, der über die Schultern gelegt wird und heute noch als Ehrenzeichen mancher Bischöfe in Benutzung ist.

Tradition mit Bibelverweis

Isidor von Sevilla kennt zwar beide Begrifflichkeiten im Zusammenhang mit dem Alten Testament als besonderes Kleidungsstück der Bischöfe, scheinen Rationale bzw. Superhumerale im Spanien des beginnenden siebten Jahrhunderts jedoch nicht verbreitet gewesen zu sein. Dafür gibt es eine andere Quelle: Germanus von Paris, der von 550 bis 576 Bischof von Paris war, kennt ein Kleidungsstück des Bischofs, welches "im Alten Testament Rationale genannt wird". Auch die Synode von Macon, die in den Jahren 581/83 zusammenkam, spricht davon, dass es ein Ehrenzeichen gebe, welches auf das Gewand des alttestamentlichen Hohepriesters rückgeführt werden kann. Gerade in der gallikanischen Liturgie war es sehr verbreitet, die eigene Tradition auf das Alte Testament zurückzubinden: Sowohl ein siebenarmiger Leuchter ist in den Kirchenräumen zu finden als auch die Bundeslade oder die Cherubim. Der Altarraum der Kirchen wird häufig als Allerheiligstes bezeichnet.

Wahrscheinlich, so lässt sich daher annehmen, stammen auch Rationale bzw. Superhumerale, die in Anlehnung an das Efod des Hohepriesters gestaltet sind, aus dieser Zeit und entwickeln sich in der gallikanischen Liturgie. Die Verbindungslinien sind deutlich: Es handelt sich um ein Kleidungsstück aus dem Alten Testament, welches dem Hohepriester zustand, und in der Liturgie der Kirche nun dem Hohepriester des Neuen Bundes, nämlich dem Bischof, zusteht. Wahrscheinlich kam es dabei zu einer Verwechslung: nämlich der Verwechslung zwischen Efod und Choschen. Vielleicht wurden auch beide Kleidungsstücke zusammen vom Bischof getragen und sind letztlich zu einem einzigen Ehrenzeichen verschmolzen. Sicher ist jedoch, dass der Brustschmuck, der heute noch manchen Bischofssitzen zusteht, eine Anlehnung an das Efod ist und demnach als Superhumerale zu bezeichnen wäre. Vermutlich im 13. Jahrhundert ist das Rationale, also der Brustschmuck der Bischöfe, nicht mehr gebräuchlich. Es gibt mehrere Thesen, welche die Entstehung des bischöflichen Pektorale aus dem Rationale begründet sehen. Mit anderen Worten: Der Brustschmuck des Rationale ist zunehmend zusammengeschrumpft zu einem kleinen Kreuz, welches die Bischöfe fortan an der Brust trugen.

Heute jedenfalls ist die Zahl der Bischöfe, die das mittelalterliche Rationale noch tragen dürfen, sehr überschaubar. Neben den Erzbischöfen von Paderborn und Krakau steht es auch noch den Bischöfen von Eichstätt und Nancy-Toul zu. Den Paderborner Bischöfen zum Beispiel wurde das Privileg, das Rationale zu tragen, 1133 von Papst Innozenz II. gewährt; durch Papst Alexander VII. wurde dieses Privileg noch einmal erneuert. Zu dieser Zeit wurde auch das Rationale gefertigt, dass die Paderborner Erzbischöfe bis heute in den Messfeiern zu besonderen Anlässen tragen. In Eichstätt wird das Rationale seit Bischof Udalrich verwendet, der in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts das Bischofsamt in der Altmühlstadt ausübte. Im 18. Jahrhundert erfolgte eine erneute päpstliche Bestätigung dieses besonderen Privilegs. Stickereien, die auf dem Rationale abgebildet sind, weisen unter anderem auf die geistlichen und weltlichen Tugenden hin. Bischof Gregor Maria Hanke OSB wurde bei seiner Bischofsweihe ein Rationale jüngeren Datums überreicht.

Von Fabian Brand