"Zwischen Hoffnung und Depression"

Veröffentlicht am 27.11.2012 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Hat im Irak über die Lage der Christen recherchiert: Geo-Reporter Malte Henk.
Bild: © KNA
Irak

Hamburg ‐ Der Ball rollt erstaunlich gut auf der holprigen Erde. Zehn junge Männer treiben das Leder über den Acker, sie lachen, schreien und johlen. Im Hintergrund eine Reihe verbeulter Busse, die Scheiben zerborsten.

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"Die stehen da noch von dem Attentat auf den Studenten-Konvoi, der zur Uni nach Mosul fuhr", sagt Malte Henk, Redakteur der Zeitschrift Geo. "Wie ein Mahnmal."

Betroffen von dem Anschlag islamistischer Terroristen vom 10. Mai 2010, bei dem nahe der nordiraktischen Stadt Karakosh 186 junge Menschen verletzt wurden, sind auch einige der ausgelassenen Kicker. Alles angehende katholische Geistliche im Priesterseminar von Karakosh, von dessen Dach aus der Hamburger Journalist die Szene erlebt hat. "In dem Augenblick hatte das schreckliche Attentat gar keine Bedeutung, weil da diese glücklichen jungen Männer laut und fröhlich Fußball spielten", sagt der 36-Jährige.

600.000 Christen geflüchtet

Wie leben Christen heute im Irak?, wollte der Reporter wissen, als er sich zusammen mit Fotograf Andy Spyra nach Karakosh, heute mit rund 45.000 Einwohnern die größte christliche Enklave im Nahen Osten, aufmachte. Von den einst 1,1 Millionen Christen sind seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 rund 600.000 geflüchtet - einige auch nach Deutschland. Erst kürzlich landeten 105 irakische Christen, die in die Türkei geflohen waren, auf dem Flughafen Hannover. Nach einem Beschluss der Innenminister sollen bis 2014 weitere 800 kommen, vor allem Chaldäer, Assyrer und Angehörige anderer christlicher Konfessionen im Zweistromland. Sie gelten als besonders bedroht, was auch immer wieder Anschläge auf Kirchen belegen.

Und doch gibt es ein lebendiges Christentum im Irak, wie Henk in Karakosh erlebt hat: Sechs katholische, drei orthodoxe Kirchen und nur ein kleines Minarett prägen die Silhouette der Stadt, die allerdings mit Checkpoints und eigener Miliz gesichert ist wie eine mittelalterliche Festung. Die zahlreichen Gottesdienste sind voll, das Priesterseminar gut belegt. "In Karakosh herrscht eine merkwürdige Mischung aus Mut, Hoffnung und Depression", meint der Germanist und Historiker Henk. Viele Menschen seien ohne Arbeit und damit ohne Zukunftsperspektive. Den Wunsch, diesem trostlosen Zustand schnellstmöglich zu entkommen, habe er nicht nur von Lilian gehört. Die junge Frau verlor ihren Mann bei dem Attentat auf den Buskonvoi.

Das geisliche Zentrum des Irak

Der Übersetzer Salaam hingegen ließ die Chance zur Ausreise ungenutzt. "Karakosh ist unser Rom. Unser geistliches Zentrum, mehr haben wir nicht, und mehr kriegen wir auch nicht", so der 25-Jährige, dessen linke Pupille bei dem Anschlag zerstört wurde. Sofern es Strom gibt, hält er über Internet und Facebook Kontakt zur Außenwelt. Neben Englisch spricht Salaam Arabisch und Altsyrisch-Aramäisch, eine Weiterentwicklung der Sprache Jesu. Schon allein um diese reiche Tradition lebendig zu halten, wollen viele Christen bleiben.

Zur Vorbereitung seiner Reportagereise hatte Malte Henk viel Unterstützung durch das katholische Hilfswerk missio. Dafür dankt er am Ende seines Artikels, der im August-Heft erschien. "Wenn man etwas für die irakischen Christen tun will, sollte man hier spenden. Damit gerade die jungen Leute eine Perspektive erhalten, indem etwa eine Universität gebaut wird", sagt Henk. Beeindruckt zeigt sich der Journalist vom Thema Religion, dem er noch nie so stark begegnet sei. "Es hat eine große Anziehungskraft, Erhabenheit und enorme spirituelle Kraft, wie die Menschen Glauben und Tradition trotz aller Gefahr weiterführen."

Einigung ohne Zerschlagung

Eindringlich appelliert er an die politisch Verantwortlichen, sich im Konflikt zwischen dem autonomen Kurdengebiet im Norden und dem arabisch geprägten Süden zu einigen, ohne den Irak zu zerschlagen.

Vor den engagierten Christen habe er "allergrößte Hochachtung", unterstreicht der Journalist. Die kickenden Priesterkandidaten sieht er als Symbol für den Geist, der die Stadt präge - trotz allem. "Denn da gibt es eine ganz große Lebensfreude, die in solchen Momenten zu spüren ist", sagt Malte Henk. "Das ist das Bild, das mir im Kopf geblieben ist."

Von Sabine Kleyboldt