Auch die Kleinsten haben Wünsche
"Alle zwei bis drei Wochen stirbt hier ein Kind", sagt Oberarzt Dejan Vlajnic. Für den Abschied bekomme die Familie dann so viel Zeit wie sie braucht. Die meisten Todesfälle gebe es auf der Intensivstation, erklärt der Mediziner. Viele seiner Patienten hätten angeborene Fehlbildungen wie Herzfehler oder eine Krebserkrankung. Zur Gewohnheit wird der Tod dennoch nicht: Jeder Todesfall sei eine Ausnahmesituation, sagt der Arzt.
Man merkt Dejan Vlajnic an, dass es ihm bei seiner Arbeit um mehr geht, als um die reinen medizinischen Diagnosen – auch bei den Kleinsten fühlt er mit. "Wir haben gemerkt, dass auch kleine Kinder Bedürfnisse haben, die wir ihnen gerne erfüllen möchten", erklärt er. So habe er beispielsweise festgestellt, dass manche Kinder auf bestimmte Personen warten bis sie sterben oder dass sie merken, wenn ihre Mutter bereit ist, sie gehen zu lassen.
Spirituelle Fürsorge – auch bei Säuglingen
Das Prinzip, nach dem Vlajnic und sein Team arbeiten, nennt sich Spiritual Care – Spirituelle Fürsorge. Unterstützt werden sie dabei auch von der Krankenhausseelsorge. Vlajnic, selbst Vater von drei Kindern, brennt für die Idee, die hinter dem Konzept steht, das in den USA und Großbritannien schon länger im Lehrplan in der pflegerischen Ausbildung verankert ist. Dabei handelt es sich um eine Disziplin, die sich zwischen den Grenzen von Medizin, Theologie und Krankenhausseelsorge bewegt. Ärzte, Pfleger und Hospizkräfte sollen lernen, nicht nur die physischen Bedürfnisse eines sterbenden Menschen zu berücksichtigen, sondern auch seine emotionalen und spirituellen Wünsche.
Der Abschiedsraum der Kinderklinik Bonn. Hier können sich Eltern von ihren verstorbenen Kindern verabschieden.
Um Spiritual Care auch in Deutschland bekannter zu machen, ist Vlajnic einer von 22 Autoren, die an dem neu erschienenen Buch "Menschliche Würde und Spiritualität in der Begleitung am Lebensende. Impulse aus Theorie und Praxis" mitgewirkt haben, das nun in der Kinderklink vorgestellt wurde. Herausgegeben wurde es von einem Team rund um den Moraltheologen Gerhard Höver aus Bonn. In dem Buch sind verschiedene Aufsätze gesammelt, die Spiritual Care aus unterschiedlichen Blickwinkeln – juristisch, ethisch, religiös und medizinisch – betrachten.
Das Kind soll nicht alleine sterben
In dem wissenschaftlichen Band erfährt der Leser unter anderem, wie eine Krankensalbung oder andere religiöse Rituale funktionieren, nach denen der Sterbende fragen könnte. Außerdem soll der Betreuer dafür sensibilisiert werden, auf religiöse und spirituelle Symbole in der Umgebung des Patienten zu achten. Dazu können Koran und Bibel auf dem Nachttisch genauso gehören wie wenn der Patient von Engeln erzählt. So könne der Betreuer dem Patienten auf Augenhöhe begegnen und seine Wünsche besser berücksichtigen, erklärt Mitherausgeberin Andrea Schaeffer vom Kölner Caritasverband.
Für das Team der Bonner Kinderklinik bedeutet eine spirituelle Fürsorge auch, dass das Kind nicht in seinem Bettchen verstirbt, sondern auf dem Arm eines Elternteils oder Angehörigen. "Wenn das nicht möglich ist, nimmt es eine Pflegekraft oder einer von uns auf den Arm", ergänzt der Mediziner Vlajnic. Natürlich sei das manchmal kompliziert, vor allem, weil viele der Kinder an medizinische Geräte und Schläuche angeschlossen sind. "Aber egal wie schwierig es ist, das wollen wir unbedingt möglich machen", sagt er.
Spiritual Care ist keine Missionierung
Mit dem Buch sollen auch Vorurteile gegenüber dem Wort "Spiritualität" abgebaut werden, erklärt Herausgeber Gerhard Höver. Spiritualität sei etwas ur-menschliches und damit ein wichtiger Faktor in der Gestaltung eines würdigen Lebensendes, so der Moraltheologe. Entstanden sei das Buch aus seiner eigenen Tätigkeit auf verbandlicher Ebene im Hospizbereich heraus. Irgendwann habe er sich die Frage gestellt, wie man angesichts einer pluralistischen Gesellschaft ein allgemeines Verständnis von Spiritualität entwickeln kann, an dem sich die Hospizarbeit orientieren könne, erklärt er.
Bei Spiritual Care handle es sich nicht um ein rein christliches Angebot, wie die Herausgeber bei der Vorstellung des Buches betonen. So gebe es im Abschiedsraum der Kinderklinik Bonn beispielsweise einen durch einen Vorhang getrennten Raum, in dem muslimische Familien die rituellen Waschungen am Leichnam durchführen können. Den Vorwurf der Missionierung könne man Spiritual Care daher nicht machen, zumal das Konzept auch nicht-religiöse Menschen in den Blick nehme, erklären sie.
Nach dem Tod hört die Begleitung nicht auf
Die spirituelle Begleitung höre nach dem Tod des Patienten nicht auf, sagt der Mediziner Vlajnic. Grundsätzlich gehe ein Mitglied des Krankenhausteams mit auf die Beerdigung, manchmal würden sie sogar den Sarg mittragen. Erst vor kurzem habe er bei einer Trauerfeier sogar die Predigt halten dürfen – "das hat mir auch selber bei der Verarbeitung geholfen", sagt Vlajnic, der auch evangelische Theologie studiert hat. Sechs bis acht Wochen nach dem Tod des Kindes hätten die Eltern zudem die Möglichkeit für ein weiteres Gespräch mit dem Arzt oder Seelsorger. Oft würden sie sich noch einmal genau erklären lassen, was da eigentlich mit ihrem Kind passiert sei oder ob es sehr gelitten habe. Einmal im Jahr gibt es außerdem einen Gedenkgottesdienst für alle verstorbenen Kinder.
Natürlich hätten Krankenhäuser und Hospize mit wirtschaftlichen Zwängen zu kämpfen, sagt Vlajnic. Das Personal sei knapp und die Fluktuation hoch, eine spirituelle Fürsorge zusätzlich zur medizinischen bedeute daher oft mehr Arbeit für alle. Dennoch lohne sich der Aufwand – die Zufriedenheit sei bei allen Beteiligten am Ende höher, auch bei Ärzten und Pflegekräften, so der Mediziner.
Das Buch kommt für die Mitherausgeberin und Moraltheologin Katharina Westerhorstmann zur richtigen Zeit. In Berlin wird im Herbst das Sterbehilfegesetz diskutiert. Spiritual Care sei ein Gegenentwurf zur Sterbehilfe und ermögliche eine andere Sichtweise auf die menschliche Würde und den Tod, erklärt Westerhorstmann. "Wir hoffen, dass die unterschiedlichen Aspekte des Bandes in der Debatte berücksichtigt werden."
Von Sophia Michalzik