Damaliger Notfallseelsorger über Ende des Gerichtsverfahrens

Einstellung des Loveparade-Prozesses: Es ist vorbei. Wirklich?

Veröffentlicht am 07.05.2020 um 13:00 Uhr – Lesedauer: 

Duisburg/Magdeburg ‐ Am Montag wurde der Prozess um die Katastrophe bei der Duisburger Loveparade 2010 endgültig und ohne Schuldspruch eingestellt. Bei Michael A. Stern, der damals vor Ort als Notfallseelsorger im Einsatz war, hat diese Entscheidung viele Gefühle und Erinnerungen freigesetzt. In einem Gastbeitrag beschreibt er sie.

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Der Deckel ist drauf, es ist vorbei. Wirklich? Ist es so einfach? Leider nicht ... Im ersten Augenblick war ich erschüttert und enttäuscht, als ich am Montag aus den Nachrichten erfuhr, dass das Strafverfahren in Sachen "Loveparade-Unglück" nun endgültig eingestellt wurde – aber nach dem ersten Durchatmen, war ich auch sehr erleichtert. Es ist endlich vorbei!

Damals, an diesem 24. Juli 2010, wollte ich selbst zur Loveparade gehen; einfach mal drüber schlendern, bevor der Dienst als Notfallseelsorger begann. Doch daraus wurde Nichts. Schon auf der Unfallhilfsstelle hörte ich Gerüchte, dass etwas passiert sei, doch genaues wusste noch niemand. Gegen 17.30 Uhr klingelte dann mein Handy und die Leitstelle der Feuerwehr war dran. Sie wären auf der Suche nach einem Seelsorger, der sich um eine Mutter kümmern solle, deren Kind gerade verstorben sei. Die Polizei holte mich ab und brachte mich an den Einsatzort. Doch als ich an der Kreuzung vor dem Tunnel zum Loveparade-Gelände ankam, war weit und breit nichts zu sehen von der Mutter. Also meldete ich mich im Einsatzleitcontainer der Feuerwehr, doch hier hieß es schon "Gut, dass Sie da sind. Wir brauchen Sie im Tunnel." Auf dem Weg dorthin kamen mir die ersten Malteser-Helfer entgegen. Sie sahen fertig aus und ich kannte sie. Auch hier bekam ich zu hören "Gott sei Dank, dass Du da bist!" Dann sah und erahnte ich das ganze Ausmaß ... Ja, so war mein Anfang damals.

Ich war als erster Seelsorger im Tunnel. Ich traf auf Einsatzkräfte, die schon völlig am Ende ihrer Kräfte waren und habe sie da rausgeführt. Es war nicht geplant, dass ich mich hauptsächlich um Einsatzkräfte kümmerte. Später habe ich die Seelsorge für alle Einsatzkräfte vor Ort organisiert. Jeder der 6.000 Helfer führte mindestens ein Gespräch mit einem Seelsorger oder einem Mitarbeiter aus einem Kriseninterventionsteam.

Das Loveparade-Unglück ist wie ein undurchsichtiger Nebel

Ein wenig kratzt die Nachricht über die Einstellung des Strafverfahrens doch an der alten Wunde, wie ich merke. Was ist los? Liegt es daran, dass das Strafverfahren scheinbar ergebnislos blieb?

Es gibt wieder keinen "Schuldigen". Wird es je diesen einen "Schuldigen" geben? Nein, ich glaube nicht. Natürlich ist es leichter, wenn man jemanden hat, der "Schuld" ist und hat. Denken wir nur an das Sündenbock-Prinzip aus dem Alten Testament. Da kann ich klar sagen: "Der ist schuld!" Aber das Loveparade-Unglück ist da irgendwie anders, es scheint wie ein undurchsichtiger Nebel zu sein. Sicherlich, es war eine Aneinanderreihung von Unglücksgeschichten: Im Vorfeld gab es Planungsfehler, bei der Umsetzung der Konzepte passte einiges nicht und am Tag selbst wurden auch Fehler gemacht. Aber eines hat das Strafverfahren doch bewirkt: Es hat Licht ins Dunkle gebracht, indem eine umfassende Aufarbeitung vorgenommen wurde. Und es hat auch gezeigt, dass die vielen Beteiligten sehr viel dafür geben würden, um das Unglück ungeschehen zu machen. Sie alle kennen also "ihre Schuld". Bräuchten wir deshalb nicht auch einen gnädigen Blick auf die ganzen Vorkommnisse und auf die Akteure? Haben sie nicht in den letzten Jahren genug gelitten? Vielleicht sogar gebüßt? Wo ist der Wille zur Vergebung?

Prämonstratenserpater Michael Stern ist seit seiner Jugend bei den Maltesern aktiv. Bei der Loveparade-Katastrophe in Duisburg war er als Notfallseelsorger im Einsatz.
Bild: ©Privat

Michael A. Stern, der Autor dieses Textes, war bei der Loveparade-Katastrophe als Notfallseelsorger im Einsatz.

Klar, die Menschen wollen Gerechtigkeit. Klar, die Hinterbliebenen wollen einen Schuldigen.

Natürlich gebührt den Angehörigen der Opfer Mitgefühl. Das ist keine Frage. Es ist schlimm und schwer zugleich, sein Kind zu verlieren und zu Grabe tragen zu müssen. Die Trauer und der Schmerz werden bleiben. Da hätte ein eindeutiger Schuldspruch seitens des Gerichts vielleicht etwas zur inneren Ruhe und zur tieferen Verarbeitung beitragen können. Nun müssen wir eben lernen, damit umzugehen. Die Katastrophe muss ein Teil des Lebens werden, von dem ich bestimmen kann, wann ich ihn anschaue und wann nicht. Ich entscheide selbst, wann ich das "Fotoalbum Loveparade" aufschlage und die Bilder ansehe, und ich entscheide, wann ich es wieder zuschlage. An diesen Punkt müssen die Opfer und Angehörigen kommen. Um diesen Punkt zu erreichen, kann die Einstellung des Strafverfahrens sogar hilfreich sein. Es ist eine Art Schlusspunkt gesetzt worden.

Das Dunkle und der Tod sind nicht das Ende

Jetzt muss man sich wieder selbst in den Blick nehmen, es gibt keine Ablenkung mehr. Die Trauerarbeit ist jetzt wieder für die Betroffenen, die einen Angehörigen verloren haben, wichtig. Sie will helfen, mit dem Unglück und mit sich Frieden schließen zu können. Dazu gehört auch Mut. Es gehört auch Mut dazu, denen zu vergeben, die im weitesten Sinne schuldig geworden sind. Vergebung hat aber nichts mit vergessen oder mit "alles unter den Teppich kehren" zu tun, dies würde nur einer sinnvollen und entlastenden Vergebung entgegenstehen. Auch das ist nicht leicht und auch dies braucht seine Zeit.

Und wo bleibt die Hoffnung?

Die feiern wir jetzt immer noch in der Osterzeit: Das Dunkle und der Tod sind nicht das Ende, sondern das Leben und die Auferstehung. Jesus Christus ist durch alle menschliche Dunkelheiten hindurch gegangen zum Leben. Dies ist vergleichbar mit einem blühenden Obstbaum. Die Blütenpracht erinnert daran, dass es auch in schrecklichen Zeiten Vorboten des Frühlings gibt. Sie sind ein Zeichen dafür, dass Hoffnung am Horizont ist, dass das Schlimme auch vorbeigeht und dass es besser wird. Sie ist ein Fingerzeig Gottes: Die Hoffnung ist nicht totzukriegen! Mit dieser Hoffnung kann ich nun gelassen durchatmen und auch loslassen und kann für mich einen Schlusspunkt setzten.

Von Michael A. Stern

Der Autor

Pater Michael A. Stern (*1973) ist Schulseelsorger und Religionslehrer am Norbertusgymnasium in Magdeburg und Seelsorger an der Studentengemeinde St. Augustinus. Zum Zeitpunkt der Loveparade-Katastrophe war er Notfallseelsorger in Duisburg.