Braucht Deutschland ein Einsamkeitsministerium?
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Kontaktbeschränkungen und Lockdowns haben dazu geführt, dass Infektionen mit dem Coronavirus in Deutschland zumindest zeitweilig stark eingedämmt werden konnten. Doch dieser medizinisch positive Effekt hat auch bedenkliche Nebenwirkungen mit sich gebracht: Schon früh warnten Psychologen und Hilfsorganisationen vor zunehmender Isolation alter, aber auch junger Menschen, die zu einer gravierenden Verschärfung der Einsamkeit führen könne. Und tatsächlich haben die vergangenen knapp zwei Jahre nochmals deutlich gemacht: Einsamkeit ist eine "Volkskrankheit" und damit schlussendlich auch ein Politikum.
In Großbritannien haben die Entscheidungsträger das offenbar sehr früh erkannt. Schon 2018 – als Lockdowns noch mehr oder weniger Science-Fiktion und Corona lediglich eine Biermarke waren – veröffentlichte die britische Regierung eine umfassende und bis dahin weltweit einzigartige Einsamkeits-Strategie, um das Phänomen national bekämpfen zu können.
Die Entstigmatisierung von Einsamkeit
Ein wichtiger Meilenstein war die Einrichtung eines eigenen Einsamkeitsministeriums, dessen vornehmliche Aufgabe die Herstellung eines Netzwerks war, aus Hilfsorganisationen, Psychologen, aber auch normalen Bürgern, die ihre persönlichen Geschichten erzählen konnten. Das war das große Anliegen der Regierungskampagne: Einsamkeit sollte entstigmatisiert werden. Es sollte darüber gesprochen und informiert werden, wie Einsamkeit das Leben von Menschen beeinflusst, im wahrsten Sinne des Wortes "krank" macht.
Die Fortschritte dokumentiert das Ministerium in einem jährlichen Einsamkeits-Report. Diese bestehen unter anderem in der Einrichtung der #Letstalkloneliness-Kampagne, etwa mit Aktionen auf sozialen Plattformen und finanzieller Unterstützung für lokale Akteure.
Die britische Initiative wurde auch international wahrgenommen und machte Schule: Auf dem Höhepunkt der Corona-Krise – und alarmiert durch eine besorgniserregende Zunahme von Suiziden – berief im vergangenen Februar auch Japans Regierung einen eigenen Einsamkeitsminister. Ein Bericht über dessen Erfolg steht freilich noch aus. Dennoch brüstet sich die Regierung in Tokio bereits damit, die Zeichen der Zeit erkannt zu haben.
Hilfe bei Suizidgedanken
Sollten Sie selbst oder Menschen in Ihrem Umfeld Suizidgedanken haben, wenden Sie sich unter 0800-1110111 oder 0800-1110222 umgehend an die kostenlose Telefonseelsorge. Dort erhalten Sie Hilfe.
Und in Deutschland? Nun, auch hier ist die politische Relevanz des Themas bereits seit längerem bekannt. Schon 2019 überschlugen sich die Forderungen nach einer zentralen Stelle im Bund, praktisch alle Parteien reklamierten den Einfall für sich. Ein CDU-Vorstoß im Berliner Senat für einen Landesbeauftragten scheiterte dann jedoch an den Stimmen der anderen Parteien.
Doch nach den Corona-Erfahrungen wurden die Karten neu gemischt. Fast alle großen demokratischen Parteien haben Einsamkeit im Vorfeld der Bundestagswahl in ihre Positionspapiere aufgenommen. Erneut kam dabei etwa bei der Unionsfraktion die Forderung nach einem Bundesbeauftragten für Einsamkeit auf. Dieser solle Strategien gegen Vereinsamung über Ressorts und Zuständigkeitsebenen hinweg kontrollieren. Die Grünen sahen das zwar als Signal, aber längst nicht ausreichend. Stattdessen müsse es strukturelle Veränderungen, insbesondere im städtischen Raum, um mehr Begegnung zu ermöglichen. Und auch die SPD will Maßnahmen gegen Einsamkeit verstärken.
Eine größere Rolle in der neuen Regierung?
Die Einsamkeits-Forscherin Susanne Bücker ist deswegen optimistisch, dass das Thema in der zukünftigen Bundesregierung eine größere Rolle spielen wird. Noch im April hatte die Psychologin der Uni Bochum für den Familienausschuss des Bundestages eine ausführliche Stellungnahme erstellt, in der sie Einsamkeit für "höchst politisch relevant" erklärte. Nicht nur wegen der Pandemie, sondern auch auf Grund des demografischen Wandels und der fortschreitenden Digitalisierung werde Einsamkeit weiter aktuell bleiben.
"Ich denke, dass die Einrichtung eines Einsamkeitsbeauftragten auf Bundesebene den Vorteil hätte, dass Einsamkeit öffentlich wirksamer diskutiert werden kann; dem Thema wird damit quasi eine Art Anschrift und Hausnummer gegeben", sagt Bücker. Der Einsamkeitsbeauftragte könnte die anderen politischen Entscheidungsträger an einen Tisch holen und sie dazu verpflichten, bei allen zukünftigen politischen Entscheidungen zu prüfen, inwiefern diese dem Ziel der Einsamkeitsprävention und Bekämpfung dienen oder möglicherweise entgegenstehen könnten.

Einsamkeit: nicht nur in der Advents- und Weihnachtszeit ein Thema.
Allerdings müsse beachtet werden, dass Einsamkeit ein "Schnittstellen-Thema" sei, das ressortübergreifend gedacht werden muss, betont die Psychologin. Es betreffe also Gesundheitspolitik ebenso wie Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. "Ich denke es ist daher wichtig, dass die Einsamkeitsprävention und -bekämpfung und die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe für alle Menschen bei sehr vielen verschiedenen politischen Themen und Entscheidungsprozessen berücksichtigt wird", meint Bücker.
Nicht alle sind überzeugt
Auch verschiedene kirchliche und zivilgesellschaftliche Hilfswerke haben in etlichen Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass die Politik aktiv werden müsse. Von der Idee eines Einsamkeitsbeauftragten sind in der praktischen Arbeit hingegen nicht alle restlos überzeugt: "Eine Oberstruktur für die Arbeit gegen Einsamkeit, unter den regional und kommunal doch eher sehr unterschiedlichen Voraussetzungen; das ist eher ein Wasserkopf", meint Matthias Krieg von der Caritas im Erzbistum Paderborn.
Als Geschäftsführer der Vinzenz-Konferenzen in der Erzdiözese ist Krieg auch für die Koordination der Initiative "7 Gegen Einsamkeit" zuständig, in der sieben soziale Fachverbände verschiedener Ausrichtung gemeinsam Aspekte der Einsamkeit behandeln und Gegenmaßnahmen einleiten wollen.
Natürlich sei es wichtig, dass es weiterhin eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Phänomens gebe und diese auch bundesweit unterschiedliche Bevölkerungsgruppen systematisch in den Blick nehme, sagt Krieg. "Die Bekämpfung von Einsamkeit ist aber weniger eine politische als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe." Dazu zählten auch ganz grundlegende Überlegungen, etwa wie ältere und einkommensschwache Menschen mit Brillen versorgt werden könnten, damit diese weiterhin am öffentlichen Leben teilnehmen können. Krieg definiert die Bekämpfung von Einsamkeit vor allem als Aufgabe für den "kommunalen Nahraum". "Einsamkeit muss vor Ort gelöst werden, da wo Menschen zusammenleben."
Und was plant die Politik?
Seitens der Politik würde sich Krieg dennoch mehr Beachtung für das Thema wünschen, etwa durch eine dauerhafte finanzielle Förderung der meist temporär angelegten Arbeit. "Es gibt nette Projekte zur Koordinierung der Arbeit im Sozialraum, die dann gefördert werden für drei Jahre. Aber wir müssen uns fragen, was ist danach? Hat sowas Zukunft, ist es eine verlässliche Größe oder bricht es ohne weitere Förderung ein?"
Stattdessen stellte die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflegeeine ganz konkrete politische Forderung, etwa die nachhaltige Finanzierung der Altenhilfe für Angebote der Teilhabe der von Einsamkeit häufig betroffenen Gruppe der über 65-Jährigen. Dafür müsse es eine stabile Finanzierung unabhängig vom Wohnort und den unterschiedlichen Haushaltslagen der Kommunen geben.
Es herrscht also allgemein Konsens darüber, dass es mehr politisches Engagement gegen Einsamkeit in Deutschland braucht, auch wenn über die konkrete Ausführung dessen noch Redebedarf besteht. Nun legten die Ampel-Parteien ihren Koalitionsvertrag vor, der an zwei Stellen auf Einsamkeit eingeht, einmal als Teil für einen nationalen Präventionsplan, zum anderen bei der Förderung von Partizipation im Alter. Explizit nicht genannt ist hingegen, ob es dafür zukünftig auch einen eigenen Beauftragten, geschweige denn ein Ministerium geben wird.
Der Autor
Johannes Senk ist Redakteur der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Aktion #jetzthoffnungschenken
Die Zahlen sind erschreckend: Jede vierte Person in Deutschland fühlt sich einsam. Und es sind nicht nur ältere Menschen betroffen. Einsamkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem – unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft. Dabei reichen oft nur kleine Gesten wie ein Lächeln, ein freundliches Wort, ein offenes Ohr oder etwas Zeit, um seinem Gegenüber Hoffnung zu schenken. Mit der Aktion #jetzthoffnungschenken will das Katholische Medienhaus in Bonn gemeinsam mit zahlreichen katholischen Bistümern, Hilfswerken, Verbänden und Orden im Advent 2021 einen Beitrag gegen Einsamkeit leisten. Erfahren Sie mehr auf jetzthoffnungschenken.de.