Wissenschaftler warnen vor Sterbehilfe-Regelungen wie in Benelux-Staaten

Rasante Ausweitung

Veröffentlicht am 16.06.2015 um 09:00 Uhr – Von Christoph Scholz (KNA) – Lesedauer: 
Sterbehilfe

Berlin ‐ Befürworter einer liberalen Regelung der Suizidbeihilfe verweisen häufig auf Staaten wie Belgien oder die Niederlande. Doch Wissenschaftler warnen vor problematischen Entwicklungen in Deutschlands Nachbarländern.

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Der Bundestag will noch in diesem Jahr die Beihilfe zur Selbsttötung regeln; der Suizid sowie die Beihilfe dazu sind in Deutschland bislang nicht verboten. Derzeit liegen vier Vorschläge von parteiübergreifenden Parlamentariergruppen vor. Einig sind sich alle, gewerbsmäßige, also auf Gewinn abzielende Angebote zu verbieten. Ein Gesetzentwurf will jede Form der Suizidbeihilfe verbieten, ein anderer alle organisierten Formen.

Ein vierter Gesetzentwurf soll Mittwoch vorgestellt werden. Er sieht ebenfalls ein grundsätzliches Verbot vor, will aber Ärzten unter bestimmten Bedingungen die Beihilfe gestatten. Borasio stimmte gemeinsam mit dem Medizinrechtler Jochen Taupitz sowie den Medizinethikern Ralf Jox und Urban Wiesing diesem Entwurf weitgehend zu. Die Wissenschaftler hatten bereits vergangenes Jahr ein ähnliches Regelungsmodell in die Diskussion gebracht und nun die Tagung organisiert. Wesentlich sei dabei die Freiwilligkeit und Selbstbestimmung des Patienten, so Taupitz. Vorbild ist die Regelung im US-Bundesstaat Oregon. Dort dürfen Ärzte seit 1997 unter strengen Bedingungen Schwerstkranken mit begrenzter Lebenserwartung ein tödliches Mittel verschreiben.

Motiv: Kontrolle über das Lebensende zu behalten

Ein wesentliches Motiv für die Schwerstkranken ist dabei nach Angaben der US-Psychiaterin Linda Ganzini, die Kontrolle über ihr Lebensende zu behalten. Die Patienten hätten im Schnitt eine verhältnismäßig geringe religiöse Bindung, einen überdurchschnittlichen Bildungsstatus und täten sich schwer mit der Sinnfindung im Sterbeprozess. Hinweise darauf, dass Suizidhilfe von sozial Schwachen oder Hochbetagten vermehrt im Anspruch genommen werde, gebe es nicht.

"Einfach erschreckend"

Aktive Sterbehilfe für Kinder? Für Belgien ist das nun keine Frage mehr. Das Parlament hat sie für Minderjährige zugelassen. Damit hat das Beneluxland weltweit als erstes Land diese ethische Grenze überschritten. Allen Protesten zum Trotz.

Wiesing zog aus den Daten den Schluss, dass die Sorge vor einem Dammbruch bei einer rechtlichen Zulassung des ärztlich assistierten Suizids nicht gegeben seien. Laut offizieller Statistik stagniert die Zahl in Oregon seit 2003 bei etwa 2,2 assistierten Suiziden pro tausend Todesfällen.

Ganz anders ist die Entwicklung in den Niederlanden. Dort stieg die Zahl von zehn Fällen im Jahr 2003 auf 34,4 Fälle 2013 und in Belgien im selben Zeitraum von knapp drei auf 16,3 Fälle. Damit seien es inzwischen über drei Prozent der Sterbefälle, so die niederländische Gesundheitswissenschaftlerin Agnes van der Heide. Zudem komme es in 0,4 Prozent der Sterbefälle zur "Tötungen ohne ausdrückliche Bitte des Patienten". Rund 90 Prozent der niederländischen Ärzte befürworteten diese Möglichkeit, mehr als die Hälfte habe sie schon praktiziert.

Auch in der Schweiz steigen die Sterbefälle

Nach den Ausführung des Züricher Ethikers und Geriaters Georg Bosshard zeigen aber auch die Daten aus der Schweiz eine Steigerung auf mittlerweile rund neun von Tausend Sterbefällen. Zwischen 2008 und 2012 hätten auch 268 Deutsche Suizidhilfe in der Schweiz erhalten - Tendenz steigend.

In der Eidgenossenschaft ist die Beihilfe zur Selbsttötung nur verboten, wenn sie aus selbstsüchtigen Gründen geschieht. Ansonsten ist sie nicht geregelt. Suizidhilfe-Organisationen wie "Exit" für Schweizer oder "Dignitas", die sich vorwiegend an Ausländer wendet, sind dort seit Ende der 80er Jahre tätig. Seit 2006 wird Suizidhilfe auch psychisch Kranken angeboten. Exit plädiert dafür, nun auch Hochbetagte ohne schwere Erkrankungen einzubeziehen. In der Gruppe der über 85-Jährigen sind assistierte Suizide laut Bosshard inzwischen die häufigste Suizidform.

Von Christoph Scholz (KNA)