Theologe: Was Kirchenaustritte mit der Glaubenssprache zu tun haben
Jedes Jahr treten Hunderttausende Menschen in Deutschland aus der Kirche aus. Ihre Motive sind dabei unterschiedlich. Der Paderborner Fundamentaltheologe Aaron Langenfeld sagt: Die Entfremdung von der Kirche, die bei vielen schließlich zu diesem Schritt führt, habe auch damit zu tun, wie Kirche und Theologie den Glauben artikuliere. Für den christlichen Glauben zentrale Begriffe seien meistens schon so weit von der Lebenswirklichkeit der Menschen weg, dass inhaltliche Frage kaum eine Rolle mehr beim Kirchenaustritt spielen. Sähen sie einen persönlichen lebensweltlichen Bezug, würden sie sich möglicherweise mehr Gedanken machen, ob sie tatsächlich aus der Kirche austreten sollen, vermutet er. Bei einem Studientag des Bonifatiuswerks zum Thema Kirchenaustritt, der kommende Woche stattfindet, gibt Langenfeld einen Workshop mit dem Titel "'Die Grenzen meiner Sprache…' – Glaubenssprache als Grund der Entfremdung von der Kirche?" Worum es ihm genau geht und welche Aufgaben für die Theologie sieht, erklärt er im Interview.
Frage: Herr Langenfeld, wenn man Gründe für Kirchenaustritte aufzählt, ist man oft bei vordergründigen Themen wie der Kirchensteuer. Das "Problem" beginnt aber meistens weit vorher. Sie vermuten als einen Grund die Sprache, mit der über Glauben gesprochen wird. Warum?
Langenfeld: Es ist aus meiner Sicht eine wichtige Frage, ob die Art und Weise, wie die Kirche ihren Glauben artikuliert, Anteil an einer Entfremdung hat, die schließlich den Schritt zum Kirchenaustritt begünstigen kann. Vermutlich werden die allerwenigsten sagen, sie treten aus der Kirche aus, weil sie nicht daran glauben, von Christus erlöst zu sein – allerdings vor allem, weil die existenziellen Brücken zum Verständnis dieses Satzes längst abgebrochen sind. Über den großen kirchenpolitischen Reformfragen gerät immer wieder in Vergessenheit, dass ohne ein Verständnis dieser für die Kirche fundamentalen Sätze auch kein dauerhaftes institutionelles Vertrauen in sie wachsen kann.
Frage: Geht es auch um so etwas wie "Kirchensprech"?
Langenfeld: Das würde ich nicht als "Kirchensprech" bezeichnen. Es geht vielmehr um Sätze, die für die Frage, warum man Teil der Kirche ist, eigentlich zentral sind. Die sind aber meistens schon so weit von der Lebenswirklichkeit der Menschen weg, dass sie als inhaltliche Fragen eigentlich keine oder nur eine untergeordnete Rolle mehr beim Kirchenaustritt spielen. Der faktische Grund ist dann eher formal, beispielsweise die Kirchensteuer.
Frage: Braucht es also eine bessere Übersetzungsleistung?
Langenfeld: Es geht nicht nur darum, wie sich Sätze fruchtbar übersetzen lassen, sondern allgemein um die Frage, wo es Andockpunkte in der Lebenswelt gibt, die die Bedeutung des Glaubens an Christus existenziell plausibilisieren können. Glaubenssprache drückt immer auch aus, worin der Mehrwert des Glaubens für den Glaubenden liegt. Wenn man nicht mehr versteht, was diese Artikulation einem sagen will, wird es jemandem sehr viel leichter fallen, sich von der Institution zu lösen. Entscheidend wäre also, wie gut es uns tatsächlich gelingt, diese Mehrwertüberzeugungen so deutlich zu machen, dass sie bedeutsam sind für die Menschen.
Aaron Langenfeld ist Professor für Fundamentaltheologie an der Theologischen Fakultät Paderborn und deren Rektor.
Frage: Was wäre da ein Ansatz?
Langenfeld: Ich glaube, viele Menschen meinen, dass der Glaube ganz weit weg ist von ihrer Lebenswelt. Ein erster Schritt muss also darin bestehen zu zeigen, dass es tatsächlich noch immer sehr nah dran ist. Der Begriff der Sünde hat beispielsweise im Kontext großer globaler Krisen durchaus eine hermeneutische Kraft, weil er individuelle Anteilhabe an lebensbedrohlichen Strukturen und zugleich die Erfahrung der Hilflosigkeit gegenüber denselben als anthropologische Konstante artikuliert. Es geht in diesem Sinne auch nicht zuerst darum, gewisse Begriffe loszuwerden. Man muss den lebensweltlichen Bezug entdecken und besser erklären.
Frage: Dabei ist vor allem die Theologie gefragt.
Langenfeld: Letztlich leiste ich hier natürlich ein Plädoyer für eine starke Theologie, die in der Lage ist, Begriffe zu erschließen und sich an ihnen abzuarbeiten – und zwar so, dass sie einerseits den lebensweltlichen Bezügen von Menschen gerecht werden und andererseits dem Traditionsgut der Kirche verpflichtet bleiben. Eine Theologie, die mutig und experimentell mit diesen Erklärungen umzugehen versucht. Die Erklärung von Begriffen darf beziehungsweise muss dabei auch gelegentlich eine Zumutung sein. Sie darf also nicht auf die Provokationen des Glaubens zu verzichten.
Frage: Haben Sie dafür ein Beispiel?
Langenfeld: Während der Corona-Pandemie gab es einige christliche Stimmen, die versucht haben bewusst zu halten, dass man trotz aller berechtigter medizinischer und sozialer Maßnahmen die Sterblichkeit des Menschen nicht überwinden kann und dass deshalb auch Tod und Trauer einen Raum brauchen. In manchen Teilen der Öffentlichkeit gab es gar kein Gespür mehr dafür, dass man damit eine ganz triviale Sache ausdrücken will. Es stand sofort der Verdacht im Raum, man wende sich gegen medizinische Maßnahmen. In solchen Fällen muss Glaubenssprache immer wieder eine Zumutung riskieren.
Frage: Inwiefern geht es dabei auch um ein Runterbrechen von komplexen theologischen Inhalten?
Langenfeld: Ich weiß gar nicht, ob es auf das Runterbrechen oder Elementarisieren hinausläuft. Ich glaube, Theologinnen und Theologen müssen verstehen lernen, in welchen Kontexten die von ihnen gebrauchten Begriffe wie verstanden werden. Die Kontexte, in die die Kirche hineinsprechen will, sind halt oft nicht die derer, die sprechen. Wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die aus der Kirche austreten, bewegen wir uns in Lebenswelten, in denen die für die Theologie anthropologisch relevanten Begriffe eine ambivalente Bedeutung haben: Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, aber auch zentrale dogmatische Begriffe wie Vater oder Liebe – diese Worte sind je nach Kontext unterschiedlich aufgeladen.
"Die Theologie oder die Kirche müssen kontinuierlich lernen, welche Fragen wo gestellt werden und wie sie ihre Begriffe in die jeweilige Situation hinein sprechen können", sagt Aaron Langenfeld.
Frage: Leiten Sie daraus eine konkrete Aufgabe für die Theologie ab?
Langenfeld: Ich sage nicht, dass wir deswegen ein neues, gutes Handbuch brauchen. Es braucht stattdessen eine dynamische Theologie, die ständig bereit ist, die Begriffe zu reflektieren und zu überdenken. Das kann nicht bedeuten, dass wir ständig neue Begriffe erfinden, sondern dass wir versuchen, aus den Kontexten, in denen wir uns theologisch bewegen, zu lernen, was uns diese christlich so wichtigen Begriffe sagen wollen. Die Theologie muss zuhören, um zu lernen, welche Begriffe Menschen helfen können, ihren Glauben und ihre Lebenswelt besser zu verstehen. Ich bin überzeugt davon, dass der Traditionsschatz des Christentums voll ist von diesen Angeboten. Die Theologie oder die Kirche müssen kontinuierlich lernen, welche Fragen wo gestellt werden und wie sie ihre Begriffe in die jeweilige Situation hinein sprechen können.
Frage: Wo gelingt so etwas schon und wo nicht?
Langenfeld: Das Thema der Theodizee ist eine theologische Grundfrage, die in unterschiedlichen Kontexten ganz andere theologische Dynamiken erfordert. Das ist ein Feld, in dem wir gut sensibilisiert sind. Wenn wir vom trinitarischen Gott sprechen, gelingt uns nicht immer so gut, zu verstehen, was kommuniziert wird. Warum ist es bedeutsam für Christen, so zu sprechen, was bedeutet es tatsächlich im Glauben von Gott als dynamischem Beziehungsgeschehen, als Liebe selbst zu sprechen? Wie unterscheidet sich das von willkürlichen philosophischen Formeln? Auf den Punkt gebracht: Es geht immer auch um die Erläuterung, was mich motiviert, so vom Glauben zu sprechen; was diese Begriffe im jeweiligen Kontext erklären und damit helfen können, das eigene Leben besser zu verstehen.
Frage: Und inwiefern könnte das alles tatsächlich helfen, manche Kirchenaustritte zu vermeiden?
Langenfeld: Orakeln kann ich nicht, aber ein Beitrag aus der Wirtschaftswissenschaft bestärkt mich zumindest in meiner Denkrichtung: Elinor Ostrom hat 2009 den Wirtschaftsnobelpreis erhalten. In ihrer großen Dankesrede spricht sie davon, dass ihre empirische Forschung sie von der These hat abrücken lassen, dass Menschen besonders dann ökonomisch verantwortlich handeln, wenn es gute Bestrafungs- und Belohnungssysteme durch politische Akteure gibt. Stattdessen betont sie, die gemeinsame Ressourcenverwaltung funktioniert am besten da, wo Menschen Vertrauen zueinander fassen können, wo sie gemeinsam Verantwortung für die ihnen anvertrauten Ressourcen übernehmen. Sie kommt in diesem Sinne zu dem Schluss, dass es für ein funktionierendes Zusammenleben Institutionen brauche, die das Beste im Menschen fördern. Die Kirche ist nach meiner Auffassung ihrer Anlage nach eine Institution, die zum Ziel hat, das Beste im Menschen zu fördern – und zwar, das ist entscheidend, aus ihren Glaubenssätzen heraus. Wenn wir öffentlich wieder deutlich machen können, dass die Kirche tatsächlich immer noch in ganz vielen Bereichen versucht, das Beste im Menschen zu fördern, Vertrauen zu stiften, und dass das mit ihren fundamentalen Glaubensüberzeugungen zusammenhängt, dann würden wir sehr gute Gründe dafür liefern, dass Menschen ihre eigene Lebenswelt besser mit der Kirche zusammenbringen könnten. Theologische Glaubensaussagen können helfen, besser zu verstehen, wie die jeweilige Lebenswirklichkeit mit der Wirklichkeit der Kirche verbunden sein könnte – und wie man in dieser Hinsicht auch Anteil haben kann an einer Verbesserung der Welt.
Hinweis
Am kommenden Donnerstag (9. Oktober) findet in der Theologischen Fakultät in Paderborn ein Studientag zu pastoralen Fragen und Antworten rund um den Kirchenaustritt statt. Veranstalter sind die Theologische Fakultät und das Bonifatiuswerk. Es gibt Vorträge und pastoralpraktische Workshops.
