Wer in der DDR als Christ leben wollte, war Repressalien ausgesetzt

Messdiener statt Pionier

Veröffentlicht am 03.10.2015 um 00:01 Uhr – Von Markus Kremser – Lesedauer: 
Tag der deutschen Einheit

Görlitz ‐ Journalist Markus Kremser wuchs in einer katholischen Familie in der DDR auf. Als bekennende und praktizierende Christen waren sie Staatsfeinde. Für katholisch.de erinnert er sich an die Wende - und die schwierige Zeit davor.

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An die Nacht zum 3. Oktober erinnere ich mich noch ganz genau. Mit Freunden war ich in der Bonner Innenstadt unterwegs. Auf dem Marktplatz versammelten sich um Mitternacht tausende Bonner und feierten mit einem großen Feuerwerk die deutsche Einheit. Überall waren fröhliche Gesichter zu sehen. Und meins war wahrscheinlich eines der fröhlichsten.  Denn die deutsche Einheit bedeutete für mein Leben viel mehr  als es für die meisten Rheinländer der Fall war.

Antrag auf Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft
Bild: ©Markus Kremser

Mit diesem Antrag wurde die Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft beantragt.

Erst zwei Jahre zuvor, am 13. Mai 1988, hatte ich die DDR verlassen. Das war an einem Freitag. Meine Eltern hatten bereits ein Jahr zuvor einen Ausreiseantrag gestellt. Der Tag, an dem sie den Brief einwarfen, der uns in den Westen bringen sollte, war genau der Tag, an dem wir mit dem Zug zum Katholikentreffen nach Dresden fuhren. 100.000 Gläubige aus der ganzen DDR waren dort. Viele von ihnen wollten ebenfalls die DDR verlassen und hatten die Papiere bereits unterschrieben. An sie wendete sich der damalige Berliner Bischof und Kardinal Joachim Meisner, als er sinngemäß sagte "Hier ist euer Platz. Hier hat Gott euch hingestellt."

Katholikentreffen in Dresden 1987
Bild: ©KNA

Katholikentreffen in Dresden vom 10. bis 12. Juli 1987: Etwa 15.000 Menschen kamen in Dresden vor der Kathedrale, der ehemaligen Hofkirche, zum Auftakt des Treffens zu einer "Statio" zusammen. Es wurde jeweils ein Kreuz für eine DDR-Diözese aufgerichtet. Auf dem Bild (vorne, von links): der Bischof von Mainz, Karl Lehmann, stellvertretender Vorsitzender der Dt. Bischofskonferenz, Bischof Schaffran von Dresden-Meißen, Kardinal Ratzinger und Kardinal Meisner, Berlin.

In den Ausreiseantrag schrieb mein Vater Bernhard damals: "Ich wünsche für meine Kinder eine schulische Ausbildung, die sich stärker christlich und weniger einseitig an den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus orientiert". Damit waren die Fronten klar. Wir waren "hartnäckige ÜSE". So steht es in der Stasi-Akte. ÜSE heißt "Übersiedlungsersuchende". Heute sagt mein Vater: "Ich habe das damals so vorsichtig formuliert, dass es nicht strafrechtlich relevant war." Wer den Antrag schärfer formulierte, für den bestand die Gefahr,  im Gefängnis zu landen. Einen Haftbefehl sollte es später tatsächlich noch geben. Nicht wegen der  Worte in diesem Brief, sondern wegen angeblicher "Wehrkraftzersetzung", Kontakt zu westlichen Geheimdiensten und staatsfeindlicher Hetze.

Katholisches Leben galt als oppositionell

Die Wehrkraftzersetzung bestand darin, dass meine Eltern ein offenes Haus pflegten. Unweit der Kleinstadt Parchim südöstlich von Schwerin, wo wir damals lebten, gab es eine Garnison der Nationalen Volksarmee (NVA). Katholische Soldaten kamen manchmal am Sonntag zum Gottesdienst in die Kirche. Meine Eltern luden sie zum Mittag ein. In der Regel kamen die Männer aus dem Süden der DDR, aus Sachsen oder Thüringen. Urlaub gab es nur selten. Ausgang war nur in Uniform erlaubt. Bei uns konnten sie ihre privaten Kleidung lassen: Wenn sie dann Ausgang hatten, konnten sie auch mal in Zivil in die Stadt gehen oder Freunde treffen. Das war Wehrkraftzersetzung.

In anderen Fällen und anderenorts mag es anders gewesen sein. Bei uns war es so, dass unser katholisches Leben als oppositionell galt. Ich ging nicht zu den Jungpionieren und auch nicht zu den Thälmannpionieren. 25 Jahre nach der Wende muss den Nachgeborenen erklärt werden, was das überhaupt war. In diesen kommunistischen Kinder- und Jugendorganisation, sollten bereits die Jüngsten auf die Linie der Sozialistischen Einheitspartei (SED) gebracht werden sollten. Meine Eltern wollten das nicht, ich wollte das nicht. Ich ging zum Religionsunterricht in der Pfarrgemeinde und traf meine Kumpels, die ich schon aus der "Frohen Herrgott-Stunde" kannte. Das war de facto ein katholischer Kindergarten, nur durfte er nicht so heißen. Denn konfessionelle Kindergärten waren in der DDR verboten.

Markus Kremsers Erstkommunion 1983
Bild: ©Markus Kremser

Markus Kremser 1983: Erstkommunion und Firmung statt sozialistischer Jugendweihe – das führte zu Repressalien des Regimes.

Ich ging auch nicht zur FDJ, als wir in das Alter kamen. Meine Klassenkameraden schon. Nur die wenigsten waren davon überzeugt – aber sie wussten um die Nachteile, hätten sie nicht mitgemacht. Weil ich zur Erstkommunion gegangen war und bald zur Firmung gehen würde, ließ ich schließlich die Jugendweihe ausfallen. Auch das  galt als staatsfeindlich. Ich ließ mich nicht zur "sozialistischen Persönlichkeit" erziehen, wie es in der SED-Ideologie als Ideal vorgesehen war. Ansonsten war ich aber ein guter Schüler. In Russisch hatte ich eine Eins. Und bei der Mathematik-Olympiade im Landkreis hatte ich den ersten Platz gemacht. Zumindest für einen Moment. Dann bemerkten die Veranstalter, dass ich kein Pionier war – und prompt bekam der zweitplatzierte meinen Platz auf dem Siegertreppchen. Es konnte schließlich nicht sein, dass ein Junge gewinnt, der kein Pionier ist. Meine Schulkarriere war klar. Dass ich auf keinen Fall an die EOS, die erweiterte Oberschule, und damit zum Abitur kommen würde, hatte man mir klar zu verstehen gegeben. Einen aufsässigen Katholiken wollte der sozialistische Staat nicht fördern.

Freiheit vom Grau

Katholisch sein war für mich dennoch Freiheit. Freiheit von sozialistischer Schule. Freiheit vom Grau. Ich war Messdiener statt Pionier. Die Entscheidung gegen das System hatte ich aber nicht selbst gefällt: Ich war hineingeboren in eine Großfamilie, die den Kommunismus ablehnte. Mein Großvater hat im Gefängnis gesessen. Für einen politischen Witz. Den er nicht erzählt hatte. Er ist denunziert worden.

Ich war hineingeboren in eine katholische Großfamilie in der Diaspora. Unabhängig vom politischen System hatte es hier immer einer Anstrengung bedurft, katholisch zu sein. Man war und ist hier nicht "einfach so" katholisch. Die Ministrantentage zu Pfingsten und die RKW, die Religiöse Kinderwoche, waren für mich Höhepunkte im Jahr.

Der real existierende rheinische Katholizismus

Umso größer war der Schock, als ich das kennenlernte, was ich heute scherzhaft den "real existierenden rheinischen Katholizismus" nenne. Wenige Wochen nach unserer Ausreise kam ich in Bonn an ein katholisches Gymnasium für Jungen. Was vor wenigen Wochen für mich Freiheit bedeutete, war hier auf einmal "das System". Viele meiner Bonner Mitschüler absolvierten den Schulgottesdienst mit der gleichen uninteressierten Routine, mit der meine Mitschüler als Pioniere den Fahnenappell in Parchim absolviert hatten.

Nur ein knappes halbes Jahr später sollten wir auch den Berliner Kardinal wiedersehen. 1987 hatte er den ausreisewilligen Katholiken noch gesagt, sie sollten in der DDR bleiben. Im Februar 1989 wurde Meisner selbst Erzbischof von Köln. Neun Monate später fiel die Mauer. Bis zum Ende der deutschen Teilung sollte dann kein Jahr mehr vergehen.

Von Markus Kremser