Interview mit dem 80-jährigen britischen Chorkomponisten und Dirigenten

Komponist John Rutter: Das Wunder der Musik ist ewig

Veröffentlicht am 13.12.2025 um 12:05 Uhr – Von Matthias Cameran und Martin W. Ramb – Lesedauer: 

Limburg ‐ Seine Musik wird in Kathedralen und Konzertsälen auf der ganzen Welt aufgeführt. Ende September ist der englische Chorkomponist John Rutter 80 Jahre alt geworden. Im Interview spricht er über seine lebenslange Liebe zur Musik, die Kraft gemeinschaftlichen Singens und die Bürde des Komponierens.

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Sir John Rutter, einer der einflussreichsten Chorkomponisten unserer Zeit, spricht im Interview über seine lebenslange Liebe zur Chormusik, die Kraft gemeinschaftlichen Singens und die Bürde des Komponierens. Er erzählt von prägenden Momenten seiner Jugend, von Inspiration und Stille, von Hoffnung in der Musik – und davon, warum er trotz eines reichen Lebenswerks lieber Bachs gesammelte Werke als seine eigenen Kompositionen mit auf eine einsame Insel nähme.

Frage: Sir John, viele Menschen auf der ganzen Welt kennen Ihre Musik, aber vielleicht nicht die Person dahinter. Wenn Sie sich vorstellen müssten – wer ist John Rutter?

Rutter: Nur ein Musiker! Die Fakten meines Lebens sind bekannt: geboren in London, Besuch einer Jungenschule in Nord-London mit einer guten musikalischen Tradition, Studium der Musik an der Universität Cambridge, 1975 Ernennung zum Musikdirektor an meinem alten College (Clare), 1979 Aufgabe dieser Tätigkeit, um mich auf das Komponieren und Dirigieren zu konzentrieren, was ich bis heute tue.

Frage: Ihre Musik wird in Kathedralen, Kirchen und Konzertsälen auf der ganzen Welt gesungen. Was hat Sie ursprünglich zur Chormusik gebracht, und warum widmen Sie sich ihr bis heute?

Rutter: Ich habe immer gesungen – zuerst im Schulchor, dann im College-Chor. Ich liebe sie immer noch als musikalisches Medium.

Frage: Gab es rückblickend einen bestimmten Moment, in dem Sie wussten, dass Musik Ihr Lebensweg sein würde?

Rutter: Das geschah allmählich. In meiner Schulzeit fühlte ich mich immer mehr zur Musik hingezogen, und das Singen in großen Chorwerken wie Bachs h-Moll-Messe, Haydns Schöpfung und Brittens War Requiem bestärkte mich in dieser Entscheidung. Ich war in der Schule eng mit dem später berühmten Komponisten John Tavener befreundet, und er hat mich inspiriert.

Frage: Sie haben einmal gesagt, dass man ewig auf den Drang zum Komponieren warten kann. Gibt es Momente, in denen Sie sich bewusst dafür entscheiden, nicht zu schreiben?

Rutter: Ja – manchmal brauche ich eine Pause davon, es ist eine sehr intensive Tätigkeit! Und ich habe andere musikalische Interessen, insbesondere das Dirigieren, das mir schon immer Spaß gemacht hat.

Frage: Was inspiriert Sie nach so vielen Jahren des Komponierens noch? Gibt es etwas, das Sie immer wieder in Staunen versetzt?

Rutter: Das Wunder der Musik ist ewig, ich könnte mich nie daran satt hören.

Frage: Sie haben das Komponieren einmal als "wretched compulsion", also als "elenden Zwang", beschrieben. Hat sich dieses Gefühl mit dem Alter verändert?

Rutter: An manchen Tagen hat jeder Komponist mehr Lust zu komponieren als an anderen Tagen. Der Anfang ist immer das Schwierigste, jeder Komponist fürchtet ihn, und der Kompositionsprozess ist mit viel harter Arbeit verbunden, manchmal ist er geistig und körperlich anstrengend, aber das war schon immer so. Das Alter hat für mich keinen Unterschied gemacht.

Frage: Gibt es Ideen oder Stücke, die Sie nie fertiggestellt oder noch nie komponiert haben?

Rutter: Viele! Ich habe noch nie eine Oper, ein Bühnenmusical, Filmmusik oder viel Kammermusik geschrieben. Ich hoffe, dass ich einige dieser Ambitionen noch vor meinem Tod verwirklichen kann.

„Der Versuch, gute Musik zu schaffen, kann frustrierend und anstrengend sein, aber die Mühe lohnt sich immer.“

—  Zitat: Sir John Rutter

Frage: Sie schreiben Musik, die sowohl für Profis als auch für Amateure singbar ist. Was ist für Sie das Geheimnis eines guten, "natürlichen" Chorgesangs?

Rutter: Ich weiß es nicht. Ich denke, es ist hilfreich, selbst gesungen und Chöre dirigiert zu haben, wenn man gut für sie schreiben will.

Frage: Glauben Sie an die heilende Kraft des Singens – wenn Menschen zusammenkommen, um Musik zu machen?

Rutter: Auf jeden Fall. Wenn eine Probe oder ein Konzert gut verläuft, fühlt man sich am Ende viel besser als zu Beginn. Aktive Teilnahme an Musik hat sich in zahlreichen Studien als vorteilhaft für das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit erwiesen.

Frage: Was halten Sie von virtuellen Chören und KI-generierten Stimmen? Sehen Sie sie als Chance oder als eine Art Entfremdung?

Rutter: Virtuelle Chöre haben ihren Platz in der Musiklandschaft – sie sind wertvoll für Menschen, die aus dem einen oder anderen Grund nicht in "echten" Chören mitsingen können, vielleicht wegen geografischer Entfernung, Terminproblemen oder körperlicher Behinderung. Sie entstanden natürlich während der Covid-Zeit, als sich echte Chöre nicht treffen konnten, aber ich freue mich, dass es sie weiterhin gibt. KI-generierte Chorstimmen können als Lernhilfe nützlich sein, solange wir sie als das erkennen, was sie sind: ein minderwertiger Ersatz für echte menschliche Stimmen.

Frage: Sie haben einmal gesagt: "Singen bringt Menschen in Harmonie zusammen." Was braucht es, damit diese Harmonie über die Musik hinausgeht?

Rutter: Politiker, die Frieden fördern, anstatt Unzufriedenheit und Hass zu schüren.

Frage: Viele Ihrer Werke haben eine spirituelle Dimension. Was bedeutet Spiritualität für Sie heute?

Rutter: Mein Musiklehrer in der Schule war der Meinung, dass alle Musik, ob sie nun als sakral bezeichnet wird oder nicht, im Grunde spirituell ist, und ich neige zu dieser Ansicht.

Frage: Wenn wir über Musik sprechen, sprechen wir immer über das Innerste des Menschen. Musik, gute Musik, birgt ein Geheimnis, das sich unserem Verständnis mit Worten entzieht. Würden Sie mir vielleicht sogar zustimmen, dass Musik sich auch gegen ihren eigenen Schöpfer wenden kann?

Rutter: Nein. Der Versuch, gute Musik zu schaffen, kann frustrierend und anstrengend sein, aber die Mühe lohnt sich immer.

Frage: Ohne Stille ist Musik undenkbar. Was bedeutet Stille für Sie? Hat sie für Sie einen besonderen Klang?

Rutter: Stille ist kostbar und in unserer modernen Welt nur allzu selten. Ich ziehe mich zum Komponieren in ein kleines Ferienhaus tief auf dem Land zurück, wo ich Stille erleben kann.

Ein Kirchenchor singt.
Bild: ©picture alliance / Godong/Robert Harding (Symbolbild)

"In meiner eigenen Musik gibt es immer Hoffnung, sogar Erlösung, auf die man sich freuen kann. Ohne Hoffnung sind wir verloren", so John Rutter.

Frage: Der verstorbene Papst Franziskus wählte "Pilger der Hoffnung" als Motto für das Heilige Jahr. Würden Sie der Musik auch eine Dimension der Hoffnung zuschreiben?

Rutter: Mancher Musik. In meiner eigenen Musik gibt es immer Hoffnung, sogar Erlösung, auf die man sich freuen kann. Ohne Hoffnung sind wir verloren.

Frage: Ihre Chorveranstaltung im Mainzer Dom im letzten Jahr stieß auf enorme Resonanz. Der Dom, der sicherlich nicht klein ist, war bis auf den letzten Platz mit Sängern gefüllt. Man konnte wirklich spüren, dass alle glücklich waren, Teil dieses großen Chores zu sein. Organisieren Sie oft solche Veranstaltungen, und wie blicken Sie persönlich auf diesen denkwürdigen Samstag im September 2024 zurück?

Rutter: Ich habe diese Veranstaltung nicht organisiert, sie wurde sehr kompetent vom Musikteam des Doms und der Diözese organisiert, ich wurde lediglich gebeten, sie zu dirigieren. Ich wurde in den letzten Jahren gebeten, viele ähnliche Veranstaltungen zu leiten, und ich blicke mit Freude auf sie zurück. Alle kommen in guter Stimmung, und ich hoffe, diese Stimmung einfangen und darauf aufbauen zu können.

Frage: Nicht nur die anglikanische Kirche verzeichnet einen starken Rückgang der Kirchenbesucherzahlen, auch in Deutschland bleiben die Kirchenbänke zunehmend leer. Aber wenn es zum Beispiel ein Chorkonzert mit Musik gibt, die Sie komponiert haben, sind die Kirchen voll. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Rutter: Es erfordert weniger Engagement, zu einer einzelnen Veranstaltung zu kommen als zu einer regelmäßigen Veranstaltungsreihe wie wöchentlichen Gottesdiensten. In der westlichen Gesellschaft werden wir vorsichtig mit Verpflichtungen, vielleicht ist das eine Form von Egoismus. Oder vielleicht sprechen Gottesdienste heute die jüngere Generation, die nicht aus kirchlich geprägten Familien stammt, nicht mehr an. Ich glaube nicht, dass der Glaube verschwunden ist, aber für viele Menschen drückt er sich nicht in den etablierten Formen der Gottesverehrung aus. Musik ist ein wertvoller Treffpunkt für Menschen, die spirituelle Gefühle haben, diese aber nicht in Worte fassen können.

Frage: Angesichts sinkender Kirchensteuereinnahmen kürzen die deutschen Bistümer zunehmend ihre Ausgaben. Die Kultur ist von diesen Kürzungen oft besonders betroffen, da sie nicht als Kernaufgabe der Kirche angesehen wird, sondern eher als Luxusgut. Auch die Kirchenmusik ist davon betroffen. Wenn Sie den Verantwortlichen einen Rat geben könnten, welcher wäre das?

Rutter: Investieren Sie in Musik. Ich glaube, dass sie mächtiger ist als Worte, was für Geistliche nicht unbedingt ein angenehmer Gedanke ist.

Frage: Sie sind jetzt 80 Jahre alt. Was waren Ihre glücklichsten Momente als Musiker?

Rutter: Es gibt zu viele glückliche Momente, um sie zu zählen, und es gibt immer noch welche.

Frage: Wenn Sie nur eines Ihrer Werke auf eine einsame Insel mitnehmen könnten – welches wäre es und warum?

Rutter: Keines davon! Geben Sie mir die gesammelten Werke von J. S. Bach, und ich bin glücklich.

Frage: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Rutter: Gute Gesundheit für mich, meine Familie und meine Lieben und einen kontinuierlichen Fluss musikalischer Ideen zusammen mit der Kraft, sie zu Papier zu bringen.

Von Matthias Cameran und Martin W. Ramb

Zur Person

John Rutter wurde am 24. September 1945 in London geboren. Er studierte Musik am Clare College in Cambridge, wo er erstmals als Komponist von Kirchenmusik und anderen Chorwerken, darunter Weihnachtslieder, auf sich aufmerksam machte. 1975 kehrte er als Musikdirektor an das College zurück und wirkt seit 1979 als Komponist und Dirigent. Heute werden seine Kompositionen weltweit aufgeführt, darunter konzertante Werke wie sein Requiem, sein Magnificat, Mass of the Children, The Gift of Life und Visions. 1983 gründete er seinen eigenen Chor, die Cambridge Singers, mit denen er zahlreiche Aufnahmen gemacht hat. Er tritt regelmäßig als Gastdirigent und Chorbotschafter in vielen Ländern auf. Im September 2023 erhielt er die Ivors Academy Fellowship und wurde 2024 anlässlich des Geburtstags des Königs zum Ritter geschlagen.

Hinweis

Das Interview mit Sir John Rutter entstammt der aktuellen Ausgabe des vom Bistum Limburg herausgegebenen Bildungs- und Kulturmagazins "Eulenfisch".