Misereor-Nahost-Expertin sieht bedrohliche Lage in Mossul

Schlacht auf Kosten der Zivilisten

Veröffentlicht am 21.10.2016 um 14:51 Uhr – Lesedauer: 
Irak

Dohuk  ‐ Die irakische Armee will Mossul vom IS befreien. Astrid Meyer, Nahost-Referentin von Misereor, sieht die Bevölkerung akut bedroht, aber auch Chancen einer Versöhnungsarbeit nach der Militäraktion.

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Im Zuge der Großoffensive der irakischen Armee gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) in der nordirakischen Stadt Mossul spitzt sich die Lage der Zivilbevölkerung zu. Astrid Meyer, Nahost-Referentin des Hilfswerks Misereor, hält sich derzeit in der irakischen Stadt Dohuk auf.

Frage: Frau Meyer, wie ist die aktuelle Lage der Zivilbevölkerung in Mossul?

Meyer: Die Lage scheint bedrohlich. Besonders problematisch scheint, dass die IS-Milizen die Bevölkerung daran hindern, die Stadt zu verlassen - als Teil ihrer Strategie, sie als menschliche Schutzschilde einzusetzen. Zudem wird berichtet, dass der IS Regierungsgebäude gesprengt haben soll. Die Brücken über den Tigris sollen vermint sein, um das Vordringen der Militärallianz zu verhindern. Die Zerstörung der Infrastruktur und Verminung ist insgesamt ein Problem, das auch die Zivilbevölkerung betrifft.

Ein Auto und jubelnde Männer mit der Flagge des Islamischen Staats.
Bild: ©picture alliance/ZUMA Press

Hat sich in der irakischen Stadt Mossul verschanzt: Der Islamische Staat.

Frage: Was wissen Sie über zivile Opfer der Militäroffensive?

Meyer: Meine bisherigen Informationen deuten darauf hin, dass der IS sich nahezu kampflos von den Ortschaften im Stadteinzugsgebiet von Mossul zurückgezogen hat. Zivile Opfer sind allerdings durch vermehrte Selbstmordanschläge zu beklagen.

Frage: Hunderte Christen aus Karakosch bei Mossul haben am Mittwoch den Einsatz der Regierungstruppen zur Befreiung ihres Heimatorts vom IS bejubelt.

Meyer: Der Jubel scheint mir voreilig. Die Stadt ist noch nicht ganz befreit.

Frage: Ist nun mit Racheakten des IS gegen Christen in anderen Regionen zu rechnen, etwa in Mossul?

Meyer: Das ist nicht ausgeschlossen. Allerdings ist die Lage viel komplexer. Die Polarisierung "IS gegen Christen" ist viel zu vereinfacht. Man muss den Blick ebenso auf die sunnitischen Zivilisten richten, die sich nicht dem IS angeschlossen haben. Viele Dörfer, die die Truppen der von Schiiten dominierten irakischen Regierung bei ihrem Vorstoß passieren, werden mehrheitlich von arabischen Sunniten bewohnt. Auch hier gibt es Berichte über Misshandlungen und Demütigungen seitens der Armee, die vor allem durch schiitische Milizen - also Söldner - verstärkt wurden.

Frage: Sie selbst befinden sich derzeit in Dohuk, einer Großstadt in der Autonomen Region Kurdistan im Irak. Wie bewerten Sie das Vorgehen der kurdischen Peschmerga-Kämpfer?

Meyer: Auch das Verhalten der Peschmerga, die von Kurdistan aus Orte sogenannt befreiten, wirft Fragen auf. Zwar gibt es die gemeinsame Militäroffensive, allerdings divergierende Interessen. Denn Mossul ist eine der ölreichsten Städte im Irak. Entsprechend stellt die Zentralregierung in Bagdad ebenso Ansprüche wie auch die kurdische Autonomiebehörde.

Frage: Schätzungen gehen von 750.000 bis 1,5 Millionen Menschen aus, die aus Mossul flüchten könnten. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Meyer: Hier vor Ort bleiben die Zahlen sehr unklar.

Frage: Befürchten Sie eine humanitäre Katastrophe?

Meyer: Die steht vor allem zu befürchten, wenn Zivilisten weiter daran gehindert werden sollten, Mossul zu verlassen.

„Die Polarisierung "IS gegen Christen" ist viel zu vereinfacht.“

—  Zitat: Astrid Meyer, Nahost-Referentin des Hilfswerks Misereor

Frage: Was brauchen die Menschen in Mossul derzeit am dringendsten?

Meyer: Die größte Lücke zeichnet sich in der Gesundheitsversorgung ab.

Frage: Wie könnte - eine erfolgreiche Militäroffensive gegen den IS vorausgesetzt - die anschließende Versöhnungsarbeit in Mossul und der Region gelingen?

Meyer: Indem Ansätze verfolgt werden, das gesellschaftliche Mosaik als Ressource zu erschließen. Christen können dazu beitragen, wenn sie mit einer Stimme sprechen, statt sich in Einzelkonfessionen zu separieren.

Von Norbert Demuth (KNA)

Linktipp: "Lieber in die Hölle als zurück"

10. Juni, 17. Juli, 5. August: Die Daten haben sich eingebrannt in das Gedächtnis der irakischen Christen, die im jordanischen Amman Zuflucht gefunden haben vor dem islamistischen Terror in ihrer Heimat. Am 10. Juni kamen die Kämpfer des "Islamischen Staats" (IS) nach Mossul, erzählt Seif. Mitten in der Nacht verließen er und seine Familie das Haus und flohen wie Tausende andere – Christen, Jesiden, sonstige Minderheiten. (Archivartikel aus 2014)