Tag der Verschwundenen erinnert an ein beunruhigendes Phänomen

Verschleppt, gefoltert, getötet

Veröffentlicht am 30.08.2017 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Gedenktage

Bonn ‐ Keine zehn Jahre dauerte die Militärdiktatur in Argentinien. In dieser Zeit verschwanden 30.000 Menschen. Und auch heute sind solche grausamen Vorfälle mancherorts noch immer an der Tagesordnung.

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Elisabeth Käsemann war 29 Jahre alt, als es passierte. Die Tochter des evangelischen Theologieprofessors Ernst Käsemann (1906-1998) studierte in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires Volkswirtschaftslehre und engagierte sich in sozialen und politischen Organisationen, die teilweise den Kommunisten nahe standen. 1976 putschte sich in Argentinien das Militär an die Macht - und blies zur brutalen Jagd auf vermeintliche und tatsächliche politische Gegner.

Anfang März 1977 wurde Käsemann verschleppt. Ihr Vater kontaktierte das Auswärtige Amt und die Evangelische Kirche in Deutschland. Die erste Auskunft aus Argentinien lautete: "Hiesigen Behörden ist der Fall unbekannt." Drei Monate später wurde die Leiche in einem Vorort von Buenos Aires gefunden.

Elisabeth Käsemann gehört damit "zu den wenigen Opfern der argentinischen Militärdiktatur, die nach ihrem Verschwinden wieder auftauchten, wenn auch nicht lebend", wie die Homepage gewaltsames-verschwindenlassen.de lapidar festhält, die unter anderem von Amnesty International und Brot für die Welt unterstützt wird.  Der Fall ist symptomatisch für das beunruhigende Phänomen des Verschwindenlassens, an das die Vereinten Nationen mit einem Gedenktag am 30. August erinnern. Dabei geht es um Menschen, die durch aktives Mitwirken des Staates oder durch seine Billigung festgenommen oder entführt werden. Die Behörden weigern sich, die Freiheitsberaubung zu bestätigen und verweigern Auskünfte über das Schicksal der verschleppten Person - "wodurch sie dem Schutz des Gesetzes entzogen wird", heißt es im Internationalen Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen.

Argintinische Machthaber fühlten sich durch USA bestärkt

In Argentinien verschwanden während der Militärdiktatur (1976-1983) geschätzt 30.000 Menschen. Sie wurden in Folterzentren verschleppt, meist direkt hingerichtet oder bewusstlos aus Flugzeugen ins Meer geworfen. Von vielen fehlt bis heute jede Spur. Die argentinischen Machthaber fühlten sich in ihrem "schmutzigen Krieg" durch den damaligen US-Außenminister Henry Kissinger bestätigt. Er soll seinem argentinischen Amtskollegen Cesar Augusto Guzzetti gesagt haben, er hoffe, dass Argentinien sein "Terrorismusproblem so schnell wie möglich unter Kontrolle bringen" werde.

Tatsache ist, dass die US-Regierung in den 1970er und 80er Jahren rechte Diktaturen in Lateinamerika politisch stützte. In Chile, El Salvador oder Guatemala konnten Militärjuntas und andere rechtsgerichtete Kräfte auf Rückendeckung aus Washington bei politischen Säuberungen zählen. Doch Lateinamerika ist nicht allein. Experten sehen erste Elemente des Verschwindenlassens im "Nacht und Nebel"-Erlass der Nationalsozialisten vom Dezember 1941.

Bilder von Opfern der argentinischen Militärdiktatur.
Bild: ©picture-alliance / dpa

Während der Zeit der Militärdiktatur verschwanden in Argentinien nach Schätzungen etwa 30.000 Menschen. Sie wurden verschleppt, gefoltert, aus Flugzeugen ins Meer geworfen.

Ziel war es, Gegner des NS-Regimes aus dem besetzten westeuropäischen Ausland nach Deutschland zu verschleppen, sie dort zu isolieren und verschwinden zu lassen. Denn: "Eine wirksame und nachhaltige Abschreckung ist nur durch Todesstrafen oder durch Maßnahmen zu erreichen, die die Angehörigen und die Bevölkerung über das Schicksal des Täters im Ungewissen halten."

Noch immer verschwinden Menschen

Das Motiv zieht sich wie ein roter Faden durch die neuere Geschichte: So versuchte Frankreich im Algerien-Krieg mit dieser Strategie, die Befreiungsbewegung FLN zu schwächen. Die USA folgten dem Beispiel im Vietnamkrieg. Unter Francisco Franco, der Spanien bis 1975 mit eiserner Hand regierte, wurden schätzungsweise 150.000 Frauen und Männer verschleppt. Allen Abkommen und Gedenktagen zum Trotz, die derartige Praktiken als eines der schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit geißeln, verschwinden heute immer noch Menschen. Etwa in Mexiko. Treffen kann es jeden, sagt Misereor-Länderreferentin Catharina Köhler im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Auch Personen, die völlig unpolitisch, "aber zur falschen Zeit am falschen Ort" seien.

Den Angehörigen falle es schwer, das Klima von Terror und Ungewissheit zu durchbrechen, schildert Köhler. "Man hat Angst, man könnte der nächste sein." Oft sind es Frauen, die um ihre Männer oder Kinder kämpfen. Aus den vermeintlich Schwachen können so Starke werden - wie die "Mütter der Plaza de Mayo" in Argentinien.

Von Joachim Heinz (KNA)