Hybris und Politikerverachtung? Ohne uns Christen!

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In dieser Woche feiern wir 70 Jahre Grundgesetz. Der Wahlkampf zum Europaparlament geht in den Schlussspurt. Nach Umfragen will jeder fünfte Deutsche eine Partei am rechten oder linken Rand wählen und jeder Zehnte eine Kleinpartei, von denen so manche nur ein Thema, ein Feindbild oder gar den Anspruch "Satire" hat. Fast 40 Prozent geben an, "öfter" zu denken: "Die Politiker haben keine Ahnung, das könnte ich besser als die." Welche Hybris! Etwa 20 Prozent befürworten "voll und ganz" oder "überwiegend", wir bräuchten "eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert", 11 Prozent "einen Führer, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert".
Durch die Potenzierung des Stammtischs in den "Sozialen Medien" und die Beimengung gezielter Desinformation und Hetze, vor allem aus rechtsextremen Netzwerken und Putins Trollfabriken, grassiert Verachtung für die "etablierten Parteien". Mühe und Leistung eines sachgerechten Ausgleichs pluraler Werte und Interessen werden unterschätzt. Schade, dass man Maulhelden einer ganz neuen Art Politik nicht im Laborversuch nachweisen lassen kann, wie viel besser sie es könnten. Das Ergebnis wäre ähnlich ernüchternd wie Heinz-Christians Straches Selbstoffenbarung auf Ibiza. Ohne den "neuen Menschen" bleibt eine grundlegend andere Form von Politik Utopie.
Gegen Übererwartung, Verwirrung, Polarisierung und Radikalisierung könnte das Christentum mit seinem differenzierten Menschenbild, seinen Sozialprinzipien und Anleitungen zu Mäßigung, Selbstdistanz, Verantwortungsbereitschaft und Versöhnlichkeit heilsam Orientierung stiften. Doch gerade jetzt fallen viele von ihm ab und sind die Kirchen absorbiert mit institutionellem Rückbau, früherem Versagen, Streit um Sexualethik und Sakramente, Ämter und Macht. Die Kulturkrise erfasste sie selbst: In zu einfachen Antworten, emotionalen Schnellgerichten, mangelnder Demut, theologischer Wurstigkeit und Wagenburgmentalität. Die Mitte wird aufgerieben wie im Staat.
Im Kernsatz des Grundgesetzes – "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt"– sah der damalige Dresdner Bischof Joachim Reinelt 1991 "verwirklichten Glauben". Das heißt nicht, dass am Ende jedes parlamentarischen Prozesses ein christlich "gutes" Gesetz stehen muss. Wer als Christ "Demokratie" sagt, muss auch Ja zur "Freiheit für den Irrtum" sagen. Ein korrekturoffenes, liberales System mit Gewaltenteilung und Vorrang des Rechts gegenüber dem je aktuellen Mehrheitswillen entspricht am ehesten der ambivalenten Natur des Menschen. Wer unsere Demokratie und jene, die hier und in Europa kompromissbereit um das Gemeinwohl ringen, verächtlich macht, muss bei Christen auf Widerstand stoßen. Im Gespräch, im Netz, am Sonntag in der Wahlkabine. Auch für das Leben im Staat gilt Françoise Sagans Wort: "Man weiß selten was Glück ist, aber man weiß meistens was Glück war."