Bethlehems Kinderkrippe: Ein Hoffnungslicht für die Schwächsten

Vorbei an Büschen und Blumen erreichen Übernachtungsgäste von "St. Vincent" in drei Minuten das im landestypischen weißen "Jerusalem-Stein" erbaute Gebäude. Beim Öffnen der Tür ertönen helle Kinderstimmen, ein Gemisch aus schrillem Quieken, Wortfetzen und Weinen. Beim Anblick der Besucher jubeln einige Kinder, manche strecken spontan die Hände in die Höhe, als wollten sie sagen: Nimm' mich hoch, trage mich! Auf den bunten Wänden finden sich Tierabbildungen und Szenen aus dem Kleinen Prinzen von Saint-Exupery. Auf dem gefliesten Boden laden Puppen, Bälle und Tretautos zum Spielen ein, auf einem Teppich liegen Teddybären und Kuscheltiere. Eine Statue zeigt Maria, die sich zu einem Kind hinunterbeugt. Sie verdeutlicht den Auftrag des Hauses: sich den Kleinen zuzuwenden.
Heute ist eine Besuchergruppe aus der Diözese Würzburg zu Gast. Nach wenigen Augenblicken legt Schwester Maria Pfarrer Franz Kraft ein Baby in den Arm. "Diesen Moment werde ich nie mehr in meinem Leben vergessen", sagt der Priester. Noch Monate nach der Pilgerreise muss er an die Worte der aus Sardinien stammenden Vinzentinerin denken: "Wir haben das Kind vor einer Woche auf der Straße aufgelesen."
In Palästina einen Platz zu finden, um Mensch zu werden – wie schwer das ist, hat schon Jesus erfahren. Mit der "Crѐche" gibt es seit 1885 eine Herberge, in der die Töchter der Barmherzigkeit des hl. Vinzenz von Paul genau das ermöglichen. Derzeit leben unter der Leitung von vier Vinzentinerinnen etwa 50 Kinder dauerhaft in der "Krippe" (franz. crèche). Noch einmal so viele besuchen tagsüber den Kindergarten: Sie entstammen armen, schwierigen oder getrennt-lebenden Familien.
Ob gesund, behindert oder krank - die Krippe nimmt sie auf
Die dauerhaft untergebrachten Kleinen haben Dramatisches und wohl auch Traumatisches erlebt: Viele sind Vollwaisen. Manche wurden durch eine Vergewaltigung gezeugt, manche im Müll ausgesetzt. Wieder andere wurden von einer verzweifelten jungen Mutter am Straßenrand liegengelassen. Manche haben Behinderungen, die auf Medikamentenmissbrauch oder Abtreibungsversuche der Mütter hindeuten. Jedes Kind, ob gesund, behindert oder krank, ob von muslimischen oder christlichen Eltern, erhält in der "Crѐche" einen Platz.

Kinder am Eingangstor der "Creche" in Bethlehem.
Meist sind die Mütter unverheiratet, im Heiligen Land heute noch eine Schande. Nicht selten werden sie von der Verwandtschaft umgebracht – sogenannte Ehrenmorde schreien auch im 21. Jahrhundert zum palästinensischen Himmel. Einen schockierenden Eindruck hierzu vermittelt das autobiographische Buch "Soaud – Bei lebendigem Leib", in dem eine Palästinenserin ihr Leben vor und nach dem Ehrenmordanschlag schildert. Sie, die schwerstverletzt überlebte, war auch zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung – gut 25 Jahre und 24 Operationen später – nicht bereit, ihren Namen oder ihren derzeitigen Wohnort in Europa preiszugeben, so groß war ihre Angst vor einem weiteren Tötungsversuch der Verwandten.
Brüder, Väter, Onkel, Schwäger töten weibliche Verwandte in der Überzeugung, dadurch die angeblich beschmutzte Familienehre wiederherzustellen. Iskandar Andon, der Sozialarbeiter der "Crѐche", kennt die aktuelle Zahl: "In diesem Jahr haben wir 40 Frauen durch Ehrenmord verloren, der letzte Fall war heute früh in Yatta bei Hebron", teilte er katholisch.de Anfang des Monats mit. Er ist seit fast 20 Jahren in der Krippe tätig und hat schon Jahre mit über 60 Ehrenmorden erlebt. Der palästinensische Christ aus Bethlehem wird auf drastische Weise deutlich: "Der Islam tötet die Moral." Seine Chefin, Schwester Denise, nahm im ARD-Weltspiegel-Gespräch auch kein Blatt vor den Mund: "Es ist eine so ungerechte Gesellschaft, (…) vor allem gegenüber Frauen. Egal, was man ihnen angetan hat, die Frauen haben immer Schuld und die Opfer sind die Kinder."
Die Behörden stellen Hürden auf
Die Palästinensische Behörde – in der angesichts von 99 Prozent Muslimen im palästinensischen West-Jordanland hauptsächlich diese das Sagen haben – unterstützt die "Crѐche" nicht. Weder beteiligt sie sich an den Personal- noch an den Betriebskosten. Das Geld für Gebäude, Ausstattung, Strom oder Gehälter für circa 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter muss die "Crѐche" alleine aufbringen. "Wir leben von den Spenden aus Italien, Frankreich, Deutschland", erklärt Iskandar Andon. Doch hat das Spendenaufkommen spürbar nachgelassen. Schwester Laudy führt das auf die Flüchtlinge in Europa und die damit verbundenen Herausforderungen zurück. Die einzige eigene Einnahmequelle ist der Erlös des benachbarten Pilger- und Gästehauses St. Vincent.
Der christlichen Einrichtung verweigert die Palästinensische Behörde in Ramallah aber nicht nur finanzielle Unterstützung. Im Gegenteil, sie stellt Hürden auf. "Sie zwingt uns diese Kinder als Muslime zu registrieren", erklärt Schwester Laudy. Statt christliche Namen wie Anton oder Elisabeth dürfen sie den Kindern nur neutral-arabische Namen wie Rami oder Rania geben. Eine zweite Hürde für die Schwestern und ihr Personal – darunter sieben muslimische Betreuerinnen, die selbst in der "Crѐche" groß wurden: Christliche Unterweisung ist verboten. Zumindest, erklärt Schwester Laudy, vermittele man Werte wie Respekt, Toleranz, Nächstenliebe. Da der Islam keine Adoption kennt, können die Kinder dafür nicht freigegeben werden. Erreichen sie das sechste Lebensjahr, müssen sie die Krippe verlassen. Viele werden danach im SOS-Kinderdorf von Bethlehem betreut.

Blick über Bethlehem.
Elke und Thomas Schmitt haben sich Pfarrer Kraft bei der Pilger-, Studien- und Begegnungsreise durchs Heilige Land diesseits und jenseits des Jordans angeschlossen. Elke ist vom Optimismus Schwester Marias "zutiefst berührt", ihre "heitere Ausstrahlung" findet sie ansteckend. "Die Aussicht, dass die Kinder ihr Leben noch gerade biegen können dank idealistischer Menschen wie Schwester Maria und ihrem Team" gibt ihr Hoffnung. Ihrem Mann Thomas imponierte die "Gelassenheit und Unaufgeregtheit, mit der haupt- und ehrenamtliche Pflegekräfte sich den Kindern zuwenden."
Pfarrer Franz Kraft muss immer wieder an den Besuch vor einem halben Jahr denken: "Ausgesetzt, ohne Vater, ohne Mutter. Wie geht so etwas? Ich kann es mir nicht vorstellen, sehe aber die Liebe und Herzlichkeit, mit der die Schwester mir das Baby überreicht, mit der sie dieses Kind wie auch die anderen Kinder liebevoll anschaut und wie diese mit einem Lächeln reagieren."
Die Stunde in der "Crѐche" hat ihn an die Grenzen seines Verstehens geführt. Er ist mit liebevollen Eltern aufgewachsen, die manches Opfer bringen mussten, um ihm Schule und Studium zu ermöglichen, "da wir nicht zu den Reichen gehörten". Über seine betagten Eltern sagt der 64-Jährige: "Ich habe einen Vater, eine Mutter, die mir meinen Namen geschenkt, mich erzogen und gefördert haben, die mich auch in ihrem Alter mit ihrer Sorge, ihrem Interesse und ihrem Gebet begleiten." Dankbar dafür zieht der Pfarrer der Pfarreiengemeinschaft "Christus der Weinstock" folgendes Fazit: "Gut, dass es die 'Crèche' gibt, ein Hoffnungslicht in den Abgründen menschlichen Lebens."