Leben mit Behinderung: Einfach nur Familie sein

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Yvonne und Hubertus Lüttig lächeln stolz, aber auch ein wenig überrascht in die Kamera. Den Grund dafür tragen die beiden auf der Brust: das Bundesverdienstkreuz. Sie haben es für ihr außergewöhnliches Engagement bekommen – denn bei den Lüttigs in Borchen im Kreis Paderborn finden Kinder mit besonderen Bedürfnissen ein Zuhause. Am Anfang der Geschichte, die bis zu dieser Auszeichnung führen sollte, steht zunächst aber ein Schock 19 Jahre zuvor.
"Ein Arzt hat uns gesagt, dass wir keine Kinder bekommen können", erzählt Hubertus Lüttig. Seine Frau Yvonne ergänzt: "Dabei wollten wir eine Familie, wir wollten nicht ohne Kinder sein." Da sie sich auf biologischem Weg keine Hoffnungen machen können, möchten sie ein Kind adoptieren und wenden sich an den Sozialdienst katholischer Frauen (SkF). "Eigentlich sind wir mit der Vorstellung da hingekommen, uns um ein gesundes kleines Kind zu bewerben", sagt Yvonne. Doch eine Mitarbeiterin des SkF fragt im Laufe der Gespräche, ob auch ein Kind mit einer Behinderung möglich wäre.
Die Eheleute reagieren sehr unterschiedlich: Yvonne hat als gelernte Kinderkrankenschwester schon oft mit behinderten Kindern gearbeitet. "Ich konnte mir das schnell vorstellen", sagt sie. Ihr Mann ist dagegen deutlich reservierter: "Ich bin in einem kleinen Dorf aufgewachsen, da wurden Behinderungen totgeschwiegen. Ich dachte immer, diese Menschen sitzen nur im Rollstuhl und von denen kommt nichts." Die Lüttigs besuchen in der nächsten Zeit Pflegefamilien und Einrichtungen, dann steht ihre Entscheidung fest: Ja, es soll ein Kind mit Behinderung sein. Denn Yvonne und Hubertus wollen etwas zurückgeben: "Ich hatte eine gute Kindheit. Warum sollen diese Kinder diese Möglichkeit nicht auch haben?" Pflegeheime machten einen guten Job, könnten aber keine Familie ersetzen. Da wollten sie einspringen.
In Aufgaben hineinwachsen
Ihr erstes Kind wird im Jahr 2002 die damals viereinhalb Monate alte Miriam – eine Frühgeburt. Zu diesem Zeitpunkt ist schon klar, dass sie in ihrem Leben Einschränkungen haben wird. Doch wie schwerwiegend diese sein werden, was sie können und nicht können wird, ist ungewiss. Auch für die Krankenschwester eine Herausforderung: "Ich hatte Bedenken, denn ich habe ein starkes Verantwortungsgefühl. Ich verlange von mir selbst, dass ich immer alles mitbekommen muss." Ihr helfe da der Blick ihres Mannes. "Wenn Miriam Bauchschmerzen hatte, habe ich direkt überlegt, was es wohl sein könnte. Hubertus hat einfach gesagt: 'Na, sie hat halt Bauchschmerzen wie Kinder sie manchmal haben.'" Mit der Zeit seien sie beide in ihre Aufgaben hineingewachsen.
Miriam ist 2002 das erste Kind der Lüttigs.
Bei einem Kind wollen es die Lüttigs aber nicht belassen. Als Miriam viereinhalb Jahre alt ist, sehen sie sich deshalb nach einem Geschwisterkind für sie um. Wichtig ist ihnen, dass beide Kinder auf dem gleichen Niveau miteinander umgehen können. Deshalb entscheiden sie sich für Philina, die erst drei Monate zuvor mit dem Down-Syndrom auf die Welt gekommen ist. "Wir wollten ein Kind, dass Miriam nicht in kurzer Zeit geistig weit überlegen ist. Die Kinder mussten zueinander passen", erklärt Hubertus. Aus dem gleichen Grund nehmen sie 2011 als drittes Kind den vierjährigen Taha auf, der eine geistige Behinderung hat.
Doch Miriams Zustand wiegt schwerer als anfangs gedacht: Sie ist blind und entwickelt sich deutlich langsamer als andere Kinder. Je älter sie wird, desto schwieriger ist es für sie, sich zu bewegen. Treppen stellen für sie ein unüberwindbares Hindernis dar. Die Lüttigs bauen ihr Haus für sie um: Alle wichtigen Räume sollen auf einer Ebene sein. Mittlerweile haben sich die Eheleute in ihrem Leben auf ihre Kinder konzentriert: Yvonne kümmert sich in Vollzeit, Hubertus hat seine Stelle als Fertigungssteuerer in der Metallindustrie reduziert. So können beide einen Großteil des Tages für die Kinder da sein. Yvonne fühlt sich durch diese Aufgabe aber nicht überfordert: "Es kommt ja nicht alles auf einmal. Man hat immer Zeit, auf neue Aufgaben zu reagieren." Deshalb werden im Haus oft Zimmer getauscht. "Jeder hat hier schonmal in jedem Zimmer gehaust", sagt sie mit einem Lachen.
Existenzielle Fragen
Doch das Unvermeidliche können die Lüttigs auch mit so viel Zuwendung nicht verhindern: Mit 12 Jahren stirbt Miriam im November 2014, nachdem sich ihr Zustand immer weiter verschlechtert und sogar zu Autoaggressionen geführt hatte.
Für die Familie eine schwere Zeit, in der sie sich mit den existenziellen Fragen des Lebens beschäftigt – und die Eheleute den Glauben neu für sich entdecken. Denn bisher sind zwar beide getaufte Katholiken, haben mit Kirche und Glauben aber nicht so viele Berührungspunkte. Das ändert sich nun. "Zu diesem Zeitpunkt habe ich damit angefangen, über das ewige Leben nachzudenken", erzählt Yvonne. Der Glaube habe ihr viel Halt gegeben, sie habe angefangen zu beten. In Miriams Todesanzeige heißt es: "Unser Engel geht heim." Denn Yvonne ist sich sicher: "Wir werden sie wiedersehen, an diesen Gedanken klammere ich mich."
Philina bei ihrer Einführung als Messdienerin.
Ebenso einschneidend wie der Tod von Miriam ist auch eine Nachricht, die nur acht Wochen später ins Haus steht: Yvonne Lüttig ist schwanger. Das scheinbar Unmögliche ist geschehen. Neun Monate später, im September 2015, kommt Pauline auf die Welt. "Da muss es da oben doch jemanden geben, der da was gedreht hat", glaubt Hubertus. "Das passt alles zusammen." Mit der Zeit haben die Lüttigs das Sterben ihres ersten Kindes akzeptiert: Miriams Zustand wäre nicht mehr besser geworden. "Insofern war es gnädig", sagt Yvonne. Beide Eheleute knüpfen immer mehr Kontakte zu ihrer örtlichen Pfarrei und bleiben der Kirche verbunden: Philina geht zur Kommunion und wird sogar Messdienerin – trotz ihrer Behinderung. "Sie macht in der Messe immer das Gleiche, aber mit einer Riesenfreude." Aus der Pfarrei erfahren die Lüttigs viel Unterstützung und Zuspruch, ihren Pfarrer machen sie sogar noch zum Patenonkel.
"Der musste einfach zu uns"
Denn im Jahr 2017 soll nochmal ein Kind seinen Weg in das Haus der Lüttigs finden, obwohl ihre Familienplanung eigentlich abgeschlossen ist. "Wir haben immer wieder von Jaden gehört – niemand wollte ihn haben. Der musste einfach zu uns", sagt Yvonne. Der damals Zweijährige muss kurz nach seiner Geburt mehrmals an Herz und Darm operiert werden, seitdem wird er mit Infusionslösungen künstlich ernährt. Er lebt in einem Heim für schwerstbehinderte Kinder, obwohl er geistig fit ist. "Er konnte ein Spielkamerad für Pauline sein. Sie war ja bisher das einzige Kind ohne geistige Einschränkung."
Die Infusionslösungen für Jaden nehmen viel Platz weg und müssen immer kühl gelagert werden, doch nicht nur das macht lange Urlaube oder Fernreisen für die Familie unmöglich. Das haben die Lüttigs aber nie bereut: Ein guter Urlaub sei einer, bei dem es allen gefalle. Ihren Kindern sei egal, wo es hingehe. "Selbst ein anderer Spielplatz als sonst ist für sie ein Highlight", sagt Yvonne. Ein oder zwei Mal im Jahr fahren die Lüttigs an die See oder ins Sauerland in ein Hospiz – Philina und Jaden sind beide lebensverkürzend erkrankt. Hier werden die Kinder betreut und auch die Eltern haben mal Zeit für sich. Das ist im Alltag zwar auch möglich, braucht aber viel Planung. Yvonne und Hubertus nehmen den Aufwand für ihre Kinder aber gelassen: "Wenn es den Kindern gut geht, geht es uns auch gut", ist das Motto. Man lerne mit den Kindern Kleinigkeiten neu wertzuschätzen, ergänzt seine Frau: "Sie freuen sich über Blätter im Herbst oder ein Vogelzwitschern, da muss ich oft gar nicht viel machen." Man spüre ihre Dankbarkeit – das sei jede Nacht ohne genügend Schlaf wert.
Eine Berufung
Die Lüttigs nennen das, was sie tun, eine Berufung. Ihr Leben sei vorbestimmt, auch wenn der Sinn nicht immer direkt ersichtlich sei. "Wir machen das nicht für Orden oder Geld. Das ist das, was wir im Leben machen möchten." Sie wissen aber auch, dass sie nicht alle Kinder aufnehmen können. Deshalb machen sie viel Öffentlichkeitsarbeit, um andere Menschen zu ermutigen, den gleichen Weg zu gehen. "Das sind keine Monster, sondern sie geben viel Liebe", weiß Yvonne. In den Heimen würde die personelle Situation immer schlechter, da wäre jedem Kind geholfen, das in einer Familie leben könne. Außerdem betonen die Eheleute, dass sie von unterschiedlichen sozialen Einrichtungen immer wieder Hilfe bekommen. "Wir sind nie allein."
Die Lüttigs bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. Neben ihnen steht Landrat Manfred Müller.
Heute leben bei den Lüttigs vier Kinder im Alter von vier bis 13 Jahren. Jeder Tag ist nach den Bedürfnissen der Kinder durchgeplant, doch die Eltern müssen auch flexibel reagieren, wenn einem Kind etwas passiert. Bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes lobt Landrat Manfred Müller: "Sie geben Kindern, die am meisten Hilfe brauchen, ein liebevolles Zuhause, bestmögliche Förderung und die Zeit, die sie brauchen. Wie selbstverständlich übernehmen sie Aufgaben, bei denen andere verzagen." Das verdiene großen Respekt. "Darauf können Sie sehr stolz sein." Die Lüttigs bleiben aber bescheiden: Es gebe viele andere Paare und Alleinstehende, die sich um Kinder kümmerten. Auch sie hätten eine Auszeichnung verdient. "Oft genug liest man nur negative Schlagzeilen über Pflegeeltern. Viel zu selten wird darüber berichtet, was diese Familien alles leisten", findet Yvonne.
Yvonne und Hubertus Lüttig machen weiter Werbung, damit weitere Paare ihre Türen für Kinder mit Behinderung öffnen. Mehr Menschen müssten Berührungspunkte mit diesen Kindern bekommen, um auch innere Hemmnisse zu überwinden. Dafür setzen sich die Lüttigs weiter ein. Denn ihr Leben bestehe nicht nur aus Arbeit, Stress und Ärger – "da ist auch viel Glück dahinter".