Neues Flügge-Buch über den "Zwang, anderen zu schaden" – und Auswege

Wie Gemeinden Selbstbezüglichkeit und Egoismus überwinden können

Veröffentlicht am 14.09.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Köln ‐ Allzu oft ist die Kirche wie eine Familie, klagt Erik Flügge: eng, festgefahren, und kein Außenstehender kommt so leicht rein. Wie kann die Kirche ihre eigene Selbstbezüglichkeit überwinden und so einen Beitrag zu weniger Egoismus in der Gesellschaft leisten? Damit setzt sich der Kommunikationsberater in seinem neuen Buch auseinander.

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Was tun gegen den Egoismus in der Gesellschaft? Moralische Appelle und Verzichts-Ideologie helfen nicht, davon ist Erik Flügge überzeugt. Der Kommunikationsberater spricht sich in seinem neuen Buch "Egoismus. Wie wir dem Zwang entkommen, anderen zu schaden" dafür aus, Egoismus als menschliche Grundkonstante zu akzeptieren – aber durch kluge Politik und systemische Weichenstellungen für das Gemeinwohl fruchtbar zu machen. Dabei widmet er sich großen Themen wie Wirtschaft, Arbeit, Wohnen und Bildung, aber auch ganz alltägliche Ärgenisse wie einen überbürokratischen Datenschutz nimmt er in den Blick – und sieht dabei auch für die Kirchen eine wichtige Aufgabe in der Gesellschaft.

Frage: Herr Flüge, sind die Menschen heute tatsächlich egoistischer als früher? Oder wollten Sie auch mal ein Buch nach dem Motto "früher war alles besser" schreiben?

Flügge: Früher war‘s nicht besser! Die scheinbare Gemeinschaft der Vergangenheit war für viel zu viele Menschen auch immer Einengung und Unterdrückung. Dennoch ist auch in unserem Individualisierungsdrang von heute nicht alles fehlerfrei. Es gibt eindeutige Forschungsergebnisse darüber, dass die überwiegende Zahl der Deutschen glaubt, dass die Bevölkerung egoistischer geworden ist. Das ist ein Alarmsignal. In der Corona-Krise haben wir zwar erlebt, dass viele Menschen zu solidarischem Verhalten bereit sind, aber vielfach auch nur aus Angst um die eigene Gesundheit. Seit klarer wird, wer nicht gefährdet ist, sinkt auch die Disziplin in diesen Gruppen. Das ist auch logisch. Die Jüngeren und mittleren Generationen haben ihr Leben lang eine Gesellschaftsordnung erlebt, in der man selbst für die Altersvorsorge verantwortlich ist, gekündigt wird, die eigene Bildungsbiografie selbst organisiert, sich um alles selbst kümmern muss. Eigenverantwortung stand im Mittelpunkt. Darunter leidet die Verantwortung für den anderen. Das ist bei den Älteren, die in den 50ern, 60ern und 70ern eine andere Gesellschaftsordnung erlebt haben, anders. Ältere sind stärker bereit, solidarisch zu handeln.

Frage: Und Sie schlagen nun vor, wie man den Egoismus überwinden kann?

Flügge: Schön wär’s, aber das kann ich nicht. Es geht nicht darum, den Egoismus zu überwinden und einen neuen Menschen zu erschaffen. Der Mensch ist gut so wie er ist. Egoismus ist eine ganz natürliche menschliche Eigenschaft. Die wird man nicht los. Es geht also darum, die Gesellschaft so zu strukturieren, dass mit dem eigenen Streben nach Glück auch das Glück der anderen mitbedingt wird. Ein System, in dem mein eigener Egoismus auch dem Wohl des anderen dient.

Der Kommunikationsberater Erik Flügge im Portrait
Bild: ©Ruprecht Stempell (Archivbild)

Der Kommunikationsberater Erik Flügge im Portrait

Frage: Ein Baustein für dieses System sind für Sie die Kirchen. Was können die beitragen?

Flügge: In der Kirche gibt es viele Menschen, die begreifen, dass es ein großes Ganzes gibt. Das Christentum ist eine Religion, die versteht, dass alles mit allem zusammenhängt und dass sich in allem Gott finden lässt. Damit ist ein guter Ausgangspunkt für systemisches Denken gefunden. In der Kirche gibt es die Idee, dass nicht alles, was wir im Leben schaffen, nur durch uns selbst bedingt ist. Das öffnet Türen zu einer Gesellschaft, in der Zusammenhalt mehr zählt als Egoismus und genau daran sollte die Kirche weiter und im besten Falle noch stärker als bisher arbeiten.

Frage: Zugleich klagen Sie aber über eine Selbstbezüglichkeit der Kirchen.

Flügge: Ja, denn leider dreht man sich in der Kirche auch viel um sich selbst. Diese ganzen Seminare, bei denen es darum geht, dass es mir gut geht, darum, wie ich mich fühle, wie es mir besser gehen kann, diese Gespräche, die sich um einzelne Befindlichkeiten drehen – alles, was wir so gerne "Achtsamkeit" nennen – das ist getrieben von einer rein individuellen Glückssuche, die verkennt, dass das wahre Glück nicht in der Mit-sich-Selbstbeschäftigung zu finden ist, sondern im Dienst am anderen. Alle Christen sollten sich in allererster Linie nicht auf sich sondern auf Gott ausrichten und diakonisch-helfend einen Dienst am Anderen tun.

Frage: Eine Form individueller Glückssuche steht im Zentrum des Christentums: die nach dem eigenen Heil, nach Erlösung. Genügt es dann, wie Sie das Christentum primär als diakonische und soziale Bewegung zu fassen?

Flügge: So einfach ist es in meinen Augen nicht! Das Christentum ist primär eine im Dienste Gottes stehende diakonische Bewegung, die in der Selbstlosigkeit das persönliche Heil findet! Das Vermächtnis von Jesus Christus ist doch gerade: Wendet euch den Ärmsten zu! Darin liegt auch Dein Heil. Nicht im eigenen Reichtum, sondern in der Hingabe für andere, in der Orientierung auf Gott hin und eben nicht in einer Orientierung auf mich selbst. Das ist der zentrale Unterschied zu einem kruden Egoismus, den wir in unserer Gesellschaft erleben, in dem das Individuum sich selbst zum Gott erklärt, sich selbst anbetet.

Cover des Buchs "Egoismus" von Erik Flügge
Bild: ©Dietz/Montage katholisch.de

Erik Flügge: Egoismus. Wie wir dem Zwang entkommen, anderen zu schaden. Dietz 2020, 112 Seiten.

Frage: Ist die Kirche momentan gut aufgestellt für so einen diakonischen Fokus? Beim Stichwort Kirche denken viele wohl nicht zuerst an soziales Engagement, sondern an ständige moralische Appelle bei gleichzeitigem eigenem Scheitern in schlimmsten Skandalen.

Flügge: Da ist in der Tat der Fokus verrutscht. Das diakonische Tun ist häufig ausgegliedert an kircheneigene Institutionen, an die Caritas und an Hilfswerke und an einzelne Gruppen vor Ort. Es gibt dieses Engagement, aber es ist von außen sehr schwer zu erkennen, dass das mit der Gemeinde vor Ort etwas zu tun hat. Öffentlich diskutiert die Kirche Fragen, wie wer dazugehört, wer mitmachen darf, wer die Kommunion empfangen kann, welche Moral gilt – und es geht um Skandale. Das überdeckt zu viel von dem Guten, das die Kirche tut. Mein Plädoyer ist: Jede Gemeinde sollte sich ein offensichtliches diakonisches Projekt suchen, bei dem Menschen einfach dazukommen und mitmachen können. Das bedeutet nicht zwangsläufig etwas Neues anfangen zu müssen, sondern in vielen Fällen nur, das diakonische Tun in den Mittelpunkt der eigenen Gemeindearbeit und Gemeindekommunikation zu rücken. Das heißt nicht, dass man das religiöse Leben der Gemeinde einstellen soll. Das heißt auch nicht, dass man nicht die Fragen der der Regeln und der Moral im Synodalen Weg weiterdiskutieren muss. Es heißt nur, die Erkennbarkeit der Kirche als diakonisch handelndes Werk Gottes zu stärken. Das ist auch zum Vorteil der Kirche. Denn es ist viel leichter, in ein konkretes Hilfsprojekt einzusteigen, als in eine eingeschworene religiöse Gemeinschaft, in der sich alle schon kennen, aber man nicht so genau weiß, was die da eigentlich tun.

Frage: Papst Franziskus betont immer wieder, dass die Kirche nicht einfach eine weitere humanistische NGO werden darf. Wie wird das spezifisch Christliche in einer Gemeinde noch deutlich im Vergleich zum Quartiersbüro des Roten Kreuzes?

Flügge: Niemand, der sich diakonisch in der Kirche betätigt, gibt doch deshalb seinen religiösen Bezug auf! Mein Plädoyer für ein offensichtliches diakonisches Projekt ist keines gegen das religiöse Leben der Gemeinde. Nur sollte das Diakonische das offensichtliche Angesicht der Kirche sein. Da spricht doch auch biblisch sehr viel dafür. Ich erinnere an das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Das besagt nicht, "lass das mit dem Gottesdienst, kümmere dich nur noch um deinen Nächsten". Das besagt: Verstehe, dass es dringende Notlagen gibt, bei denen Du vor dem Gang zum Gottesdienst helfen musst.

Ein Franziskaner verteilt eine Mahlzeit an einen bedürftigen Mann
Bild: ©privat (Archivbild)

Ein Franziskanerbruder verteilt in Berlin Brote an einen bedürftigen Mann – darauf kann sich auch eine zerstrittene und polarisierte Kirche einigen.

Frage: Kirchen sind, so schreiben Sie, besonders gut geeignet für ein Handeln im Gemeinsinn, "weil sie wissen, dass sie ein Problem haben". Um was für ein Problem wissen die Kirchen, und warum befähigt sie das zum Handeln?

Flügge: Mitgliederschwund, mangelnde Mobilisierungskraft, die Feststellung, dass man überaltert und immer weniger als relevant wahrgenommen wird. Das haben mittlerweile alle eingesehen. Deshalb ist die Bereitschaft da, etwas auszuprobieren und neu zu machen. Dazu kommt, dass die ganzen innerkirchlichen Streitereien sich um Fragen der Liturgie, der Sakramente, Weihe und Moral drehen. Aber über das Diakonische wird nicht gestritten. Dass das wichtig ist, darauf können sich alle einigen. Und damit kann das Diakonische auch Ausgangspunkt der Kirchenentwicklung sein. Es ist möglich, sich in einer Gemeinde ohne großen Streit auf ein diakonisches Projekt zu einigen und es umzusetzen: Organisieren wir zum Beispiel eine Obdachlosenspeisung! Manche rücken Stühle, manche schneiden Gemüse, andere kochen, und die ältere Dame, die nicht mehr gut zu Fuß ist und das alles nicht mehr schafft, setzt sich – zur Zeit mit Abstand - zu den Gästen und plaudert mit ihnen – so kann man alle beteiligen. Und mit all den Leuten kann man dann auch beten und Gottesdienst feiern – vielleicht sogar mit den Obdachlosen, denen man sich zuwendet. So bekommt die Kirche einen sichtbar offeneren Charakter ohne alle theologischen Streitfragen lösen zu müssen.

Frage: Das klingt idyllisch. Sie wenden sich aber gegen ein allzu familiäres Kirchenbild, wo die Kirche so eng geknüpft wie eine Familie ist. Gerade im katholischen Bereich gibt es noch das Bild der "Pfarrfamilie".

Flügge: Familien sind wichtig und eine Keimzelle unserer Gesellschaft. Problematisch ist nur, wenn eine kirchliche Gemeinde genau wie eine Familie funktioniert: In einer Familie haben alle eingeschliffene Rollen, es gibt viel Unausgesprochenes, es gibt viele emotionale Verletzungen und Befindlichkeiten. Man kennt das von der Familie des eigenen Partners oder Partnerin: Es ist schwer, in eine fremde Familie hineinzukommen. Man macht das eigentlich nur aus Liebe. Ein Vergnügen ist das nicht. Wenn eine kirchliche Gemeinde genauso funktioniert wie eine Familie, dann hat sie genau die gleichen Probleme: viel Unausgesprochenes, eine eigene Sprache, auf sich selbst bezogen. So bildet eine Gemeinde eine Burg, in die man schwer von außen hineinkommt - genau wie der neue Schwiegersohn schwer in die Familie des Partners oder der Partnerin hineinkommt. Für die Kirche ist dies besonders dramatisch, denn wir verlieben uns normalerweise nicht in eine Kirchengemeinde hinein. Wir wollen vielmehr einfach dazukommen, mitmachen und Anschluss finden. Bei sozialen Projekten muss man anders als beim Gemeindefest nicht die komplizierte "Familienaufstellung" der Gemeinde verstehen. Man kommt dazu, hat gleich etwas zu tun, schneidet Gemüse und ist dabei.

Frage: Aus der Religionssoziologie ist bekannt, dass konservative, sektenartige, nach innen und außen abgegrenzte Strukturen, die eine klare Identität zur Verfügung stellen, erfolgreich darin sind, ihre Mitglieder zu binden und sich selbst zu erhalten.

Flügge: Klar, es ist leichter sich zurückzuziehen, sich keiner Kritik auszusetzen. Nur: Wo führt das hin? Zu einer kleinen, schwachen Kirche, zu geistiger Verarmung, weil man nicht mehr mit gegenteiligen Perspektiven konfrontiert wird, weil man sich nicht mehr mit dem Auseinandersetzen muss, was andere glauben. Dagegen stelle ich ein anderes Bild einer sehr erfolgreichen und zugleich sehr offenen Kirche: die Gemeinschaft von Taizé. Alle, die dort ankommen, werden sofort bei der Ankunft in die Arbeit integriert: Abendessen vorbereiten, Gelände aufräumen, Müll wegbringen. Das alles ermöglicht einen leichten Zugang zur Gruppe. Und im nächsten Schritt geht man mit den Leuten, mit denen man eben noch Säcke zur Müllkippe getragen hat, gemeinsam zu den Gebeten. Das ist ein offenes, nicht abgegrenztes System, das darauf ausgerichtet ist, Menschen schnell durch Mittun zu integrieren und hineinzuholen, ohne dass man eine hohe Schwelle überschreiten und wissen muss, wie man sich zu verhalten habe.

Bundeskanzlerin Angela Merkel überreichte den Sternsingern bei ihrem Besuch im Bundeskanzleramt eine Spende für eine Hilfsprojekt im Libanon.
Bild: ©katholisch.de/stz (Archivbild)

Für Erik Flügge das beste Beispiel, wie Kirche sein kann: Die Sternsinger ermöglichen allen jungen Menschen ganz einfach an einer beeindruckenden Sozialaktion teilzunehmen – und hinterher sind alle stolz auf das erreichte für Kinder in Not.

Frage: Sie schreiben: "der bestgetarnte Egoismus in den Kirchen herrscht in den Gemeinden". Warum? 

Flügge: Wie gesagt, der Egoismus ist eine ganz natürliche Eigenschaft des Menschen und natürlich ist dann auch die Kirche nie ganz frei vom Egoismus. Das wäre illusorisch. Auf höheren Ebenen wird solches Verhalten schnell angeklagt und als Machtstreben verurteilt. Aber es gibt den Egoismus auch in Gemeinden – nur da fällt er weniger auf. Man kann auch in den Gemeinden trennen zwischen denjenigen, die sich aufopfern und ganz viel für andere tun und denen, die nur etwas für sich wollen. Wenn die Kirche zum Ort der eigenen Selbstverwirklichung wird, wenn es nur ums eigene Lieblingsprojekt, nur um die liebgewonnene Freizeitbeschäftigung geht, dann ist das nicht genug. Aber immer dann, wenn in der Gemeindearbeit der Fokus auch auf das Gegenüber gelegt wird, dann entfaltet die Kirche ihre ganze Stärke. Jesus fragt immer zuerst: Wie kann ich Dir helfen? Im Christentum finden wir das eigene Glück im Dienst am schwächeren Gegenüber.

Frage: Wo erleben Sie die Kirche in Deutschland schon so, wie Sie es sich wünschen?

Flügge: An ganz vielen Stellen und das ist auch der Grund für meine Hoffnung, dass wir das mehr nach außen tragen können, ohne alles neu machen zu müssen. Ich denke zum Beispiel an eine ehrenamtlich im Malteser-Hospizdienst engagierte Frau, regelmäßige Kirchgängerin, die mir den wunderschönen Satz sagte: "Helfen ist mein Gottesdienst". Diese Haltung erlebe ich an vielen Stellen: Beim Seniorenbesuchsdienst, bei der Gräberpflege für Menschen ohne Angehörige, bei Armenspeisungen. Ich kenne aber wenige Gemeinden, die dieses Engagement in den Mittelpunkt ihrer Kommunikation rücken. Ich finde, unser gutes Tun als Kirche muss mehr in den Fokus kommen. Am besten funktioniert das bei den Sternsingern. Dort haben wir ein zeitlich ganz klar begrenztes diakonisches Projekt, bei dem alle junge Leute einfach mitmachen können, auch evangelische Kinder, muslimische oder gar nicht religiös gebundene, und sie alle leisten einen Dienst, der anschließend in der Gemeinde, in der ganzen Kirche und in der Gesellschaft hoch gewürdigt wird. Ich wünsche mir, dass die Kirche überall so aussieht wie die Sternsinger. Dazu braucht es auch keine Verkleidung. Sichtbarer Dienst am Nächsten genügt.

Von Felix Neumann