Dorothy Day: Von der "Anarcho-Äbtissin" zur Seligen?

Papst Franziskus stellte sie bei seiner Rede vor dem US-Kongress im Jahr 2015 in eine Reihe mit Abraham Lincoln und Martin Luther King: die Pazifistin, Anarchistin und tiefgläubige Katholikin Dorothy Day. Eine Nation könne als bedeutend angesehen werden, "wenn sie so nach Gerechtigkeit strebt und sich um die Sache der Unterdrückten bemüht, wie Dorothy Day", so das Kirchenoberhaupt. Auch sein Vorgänger Benedikt XVI. schilderte die vor 40 Jahren verstorbene Day als Vorbild für soziales Engagement aus dem christlichen Glauben heraus. Sie habe in einer "dermaßen säkularen Umgebung" trotz großer Schwierigkeiten zum Glauben gefunden, sagte der Ratzinger-Papst in einer Generalaudienz im Februar 2013. Doch wer ist die Frau, die wie keine andere katholische Persönlichkeit der USA scheinbare Gegensätze in sich vereint und doch die amerikanische Kirche bis heute prägt?
Day wurde 1897 in eine Mittelklasse-Familie in New York hineingeboren. Aufgrund des Berufs ihres Vaters, der Sportreporter war, zog die Familie mehrmals innerhalb der USA um. Days Eltern waren getaufte protestantische Christen, für die der Glaube keine praktische Bedeutung in ihrem Leben hatte. Ihre Tochter interessierte sich jedoch schon als kleines Kind für das Christentum, las regelmäßig in der Bibel und ließ sich im Alter von 13 Jahren in der Episkopal-Kirche taufen. Day widmete bereits in ihrer Jugend der Lektüre viel Zeit und lernte durch die Schriften Tolstois und Kropotkins die Ideen des christlichen Anarchismus kennen. Sie war fasziniert von der Vision einer sozial gerechten und egalitären Gesellschaft. 1914 begann sie gefördert mit einem Stipendium ihr Studium an der Universität von Illinois, das sie nach zwei Jahren jedoch abbrach, um sich dem Journalismus zu widmen. Inzwischen war sie zur Atheistin geworden: Sie hatte sich Kommunismus und Sozialismus zugewandt, die sie im Vergleich zum von ihr als Heuchelei betrachteten Christentum als radikalere Wege kennengelernte.
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Neben ihrer Arbeit für linksgerichtete Publikationen in New York, bei der sie etwa Reportagen über das Leben am Existenzminimum schrieb und den russischen Revolutionär Leo Trotzki interviewte, nahm die überzeigte Pazifistin an zahlreichen Demonstrationen teil. 1917 wurde sie bei einer Kundgebung für Frauenrechte vor dem Weißen Haus das erste Mal in Haft genommen: Day verbachte 15 Tage im Gefängnis, zehn davon in einem Hungerstreik. Das letzte Mal in ihrem Leben sollte sie mit 75 Jahren verhaftet werden, weil sie an einem verbotenen Streik teilgenommen hatte. Sie führte das Leben einer linken Intellektuellen, die sich für eine gerechtere Gesellschaft einsetzte. In diese Zeit fällt auch eine Abtreibung aus Angst davor, dass der Vater des ungeborenen Kindes die Beziehung zu ihr beenden würde, wenn er von der Schwangerschaft erführe. Der medizinisch herbeigeführte Verlust des Kindes war aus späterer Sicht "die größte Tragödie" ihres Lebens.
Eine Bekannte brachte Day in Kontakt mit der katholischen Kirche, zu der sie sich hingezogen fühlte, weil sie die Konfession zahlreicher Migranten als "Kirche der Armen" wahrnahm. Nach der Geburt ihrer einzigen Tochter Tamar Teresa, ließ sie das Kind 1927 in der katholischen Kirche taufen. Da der Vater des Kindes organisierte Religion ablehnte, trennte sich Day von ihm. Im Dezember 1928 wurde sie schließlich selbst Katholikin. Sie hielt sich in der Folgezeit mit einem Job als Drehbuchschreiberin über Wasser, da sie sich zwischen den ideologischen Stühlen fühlte: weder ihre kommunistischen Freunde konnten etwas mit ihrem neugefundenen Glauben anfangen noch unterstützte die katholische Kirche ihre Ideen für eine möglichst herrschaftsfreie Gesellschaft. Geistliche Literatur wurde ihr in der Folge immer wichtiger; sie stand in Kontakt mit dem berühmten spirituellen Autor und Trappisten Thomas Merton.
"Catholic Worker": Zeitung und Bewegung
1932 machte Day eine Begegnung, die ihr künftiges Leben prägen sollte: sie lernte Peter Maurin kennen, einen französischen Immigranten und ehemaligen Ordensmann, der das Leben eines Vagabunden führte. Geprägt von der Armut des Franz von Assisi und der katholischen Soziallehre seit Papst Leo XIII. nahm er, wie Day auch, die Notwenigkeit eines verstärkten sozialen Einsatzes der Katholiken in den USA wahr. Beide gründeten daher 1933 die "Catholic Worker"-Bewegung. Mit der gleichnamigen Zeitung, die bis heute erscheint, wollten sie sich mitten in den Nachwehen der großen Wirtschaftskrise von 1929 aus katholischer Perspektive an Arbeiter und Bedürftige wenden. Day verantwortete als Chefredakteurin die meist meinungsstarken Artikel des "Catholic Worker". Sie war sehr bestimmend und bekam schnell den Spitznamen einer "Anarcho-Äbtissin". Immer wieder musste sie Maurin in seiner Kritik der kirchlichen Hierarchie in die Schranken weisen. Darin und in ihrer Liebe zur Liturgie zeigte sich die Benediktiner-Oblatin als kirchentreue Gläubige.
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Doch auch Day legte sich in ihrer Arbeit als Aktivistin für die Rechte von Arbeitern mit der Kirche an: Sie stellte sich bei einem Streik katholischer Friedhofsarbeiter auf deren Seite und verärgerte damit den Erzbischof von New York, Kardinal Francis Spellman. Zuvor hatte sie jedoch versucht, zwischen beiden Gruppen zu vermitteln. Aus der Zeitung entstand mit der Zeit ein Netz aus Suppenküchen, Kleiderkammern und Gemeinschaftswohnungen, in denen vom Glauben geprägte alternative Wohnmodelle ausprobiert wurden und bis heute werden. Doch Day war von dieser Entwicklung nicht nur begeistert und sah auch die Probleme dieser Häuser, etwa eine zunehmende Entchristlichung in der Bewegung oder promiskuitive Tendenzen. Sie war bis ins hohe Alter für den "Catholic Worker" aktiv und starb 1980 mit 83 Jahren an einem Herzinfakt. Das Requiem leitete der New Yorker Kardinal Terence Cooke.
Bis heute prägt Day sowohl die katholische Kirche in den USA als auch die anarchistische Bewegung. Sie bekam zahlreiche Preise für ihr Engagement zugesprochen und erhielt den Nobelpreis wohl nicht, da sie in ihren Ansichten als zu radikal erschien. Ihre 63-jährige Enkelin Martha Hennessy setzt als katholische Antikriegs-Aktivistin ihre Arbeit fort. Drei Jahre nach Days Tod wurde ihre Seligsprechung erstmals ins Spiel gebracht. Inzwischen trägt sie den Titel "Dienerin Gottes" und könnte demnächst zur Ehre der Altäre erhoben werden – ein Schritt, den Day sicher abgelehnt hätte, denn zu Lebzeiten warnte sie ihre Mitstreiter, Bewunderer und Widersacher bereits: "Nennt mich keine Heilige!"