Viele Kirchenchöre seit einem Jahr ohne regelmäßige Proben

Stille im Probenraum: Wie Corona die Kirchenmusik gefährdet

Veröffentlicht am 26.03.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Seit einem Jahr keine regelmäßigen Proben und kaum Auftrittsmöglichkeiten: Das zehrt am Zusammenhalt so manchen Kirchenchores. Viele Chorleiter bangen um die Zukunft ihrer Chöre – und spüren die Auswirkungen der Corona-Pandemie teils auch finanziell.

  • Teilen:

Seit ziemlich genau einem Jahr unterliegen weite Teile des gesellschaftlichen Lebens den Beschränkungen zur Eindämmung des Corona-Virus. Eine der am meisten von pandemiebedingten Ausfällen betroffenen Branchen stellt der gesamte Bereich der Kulturschaffenden dar: Theater und Opernhäuser müssen seit Monaten geschlossen bleiben, Konzertabsagen und ausgefallene Soloauftritte gefährden die Existenz freischaffender Künstlerinnen und Künstler. In diesem Ozean der Stille gleicht die Welt der Kirchenmusik gegenwertig fast einer Insel der Seligen: Durch das Grundrecht auf freie Religionsausübung geschützt, dürfen in den Kirchen weiterhin Gottesdienste stattfinden oder wurden während der harten Lockdown-Phasen in digitale Livestreams verlagert.

Das Bemühen der Pfarrgemeinden und Kirchenmusiker, auch bei der Gestaltung der "gewöhnlichen" Gottesdienste unter dem Jahr verstärkt Profimusiker einzubinden und ihnen so wenigstens ein minimales Auskommen zu ermöglichen, ist deshalb ein lobenswerter gesellschaftlicher Beitrag. Gleichzeitig täuscht aber jedes Trompetensolo oder Vokalensemble unbeabsichtigter Weise darüber hinweg, dass es auch im kirchlichen Kulturspektrum seit Monaten erschreckend still geworden ist, insbesondere in den Kirchenchören.

Kirchenchöre leiden unter anhaltendem Probenausfall

Im Unterschied zu den selbstständigen Solomusikern sind die kirchlichen Chöre und Ensembles aktuell zwar in ihrer wirtschaftlichen Existenz kaum gefährdet, da sie in der Regel von den Pfarreien finanziert werden und deshalb nicht unmittelbar von Konzerteinnahmen abhängig sind. Dafür leiden die Kirchenchöre stärker unter den psychologischen Auswirkungen der Pandemie: Gerade in den pfarrlich organisierten Chören spielt der sozial-kommunikative Aspekt eine tragende Rolle, weshalb sich die Gruppen über die mitunter monatelangen Kontaktpausen zu verlieren drohen. Hinzu kommt, dass sich auch die fehlende Proberoutine im musikalischen Amateurbereich besonders bemerkbarmacht.

Um die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die katholischen Laienchöre besser einschätzen zu können, haben der Allgemeine Cäcilien-Verband (ACV) zusammen mit dem Kinder- und Jugendchorverband Pueri-Cantores zwischen Mitte August und Mitte Oktober letzten Jahres eine Umfrage unter ihren Mitgliedergruppen durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt bestanden keine generellen Kontaktbeschränkungen, sodass Proben unter Einhaltung strenger Hygieneregeln, etwa im Freien oder in der Kirche möglich waren. Dementsprechend zeigten die Ergebnisse der Umfrage, dass etwa die Hälfte der Chöre den physischen Probenbetrieb in voller Besetzung oder aber in Stimmgruppen wieder aufgenommen hatte. Lediglich vier Prozent gaben an, dass sie digital oder in Hybrid-Formen proben würden. Die übrigen rund 40 Prozent der Chöre teilten mit, dass weiterhin keine Proben stattfänden, oder hatten keine Angaben gemacht.

ACV-Präsident Marius Schwemmer hat sich über die Umfrageergebnisse einerseits sehr gefreut. Sie würden zeigen, dass den Mitgliedern die Chorarbeit sehr am Herzen läge und sie bereit seien, flexible Probenkonzepte zu entwickeln und mitzutragen. Andererseits geht Schwemmer aber davon aus, dass unter den rund 1.200 Rückmeldungen vor allem solche Chöre waren, die personell und technisch gut aufgestellt seien und deshalb mit den erschwerten Bedingungen besser zurechtkämen. Um die tatsächlichen Zahlenverhältnisse könne es also deutlich schlechter stehen. Für viele Kirchenchöre käme eine mögliche Wiederaufnahme der Proben in diesem Frühjahr in Wirklichkeit einem Neustart gleich, betont Schwemmer.

ACV-Präsident Marius Schwemmer
Bild: ©privat

Marius Schwemmer ist Diözesan- und Dommusikdirektor von Passau und Präsident des Allgemeinen Cäcilien-Verbandes für Deutschland (ACV).

Über 13.300 Kirchen-, Jugend- und Kinderchöre, Choralscholen und Singkreise gab es laut dem Bonner Musikinformationszentrum (miz) 2019 in der katholischen Kirche. In der evangelischen Kirche existierten im gleichen Jahr sogar nahezu 20.000 Chöre und Gesangsensembles. Insgesamt sollen sich in Deutschland im kirchlichen Bereich mehr als 900.000 Menschen in vokalen und instrumentalen Gruppen engagieren. Die Auswirkungen der Pandemie stellen das personelle Fortbestehen der Ensembles jedoch auf eine harte Probe: Die klassischen Kirchenchöre hätten meist einen großen Mitgliederanteil an älteren Menschen, sagt ACV-Präsident Schwemmer. Gerade diese würden aus Sorge vor einer Ansteckung aber lieber zuhause bleiben oder die lange Probenpause zum Anlass nehmen, aus dem Chor auszuscheiden.

Florian Dold kann diese Einschätzungen aus seiner eigenen Praxis bestätigen. Der 32-Jährige leitet den Kirchenchor in Ehingen, einer kleinen Ortschaft im Südwesten Deutschlands. Innerhalb der Chorgemeinschaft sei man sich zu Beginn der Pandemie schnell einig gewesen, dass regelmäßige Proben nur mit einem festen Ziel sinnvoll seien. Der Vorstand habe deshalb beschlossen, erst einmal abzuwarten, sagt Dold, die Beschränkungen würden schon nicht so lange anhalten. Als im Herbst die Probenarbeit für Allerheiligen begonnen hatte, sollte es aber bei zwei Proben bleiben: Dann wurde bereits der neue Lockdown angekündigt und alle Präsenzgottesdienste wurden bis auf Weiteres abgesagt.

Nun will Dold erneut abwarten, was sich als nächste Auftrittsperspektive ergibt. Dabei macht sich der junge Dirigent große Sorgen, ob sein musikalisch durchaus anspruchsvoller Chor die mehr als einjährige Pause überstehen wird. Auch bei ihm gehöre der weitaus größere Teil der Sängerinnen und Sänger der älteren Generation an. Nicht wenige von ihnen hätten bereits angekündigt, dass sie wahrscheinlich nicht wieder einsteigen wollen oder können. "Gerade für die älteren Chormitglieder ist es ein großes Problem, dass die Selbstverständlichkeit des Singens verloren gegangen ist – sowohl stimmlich als auch emotional", sagt Dold. Zu Anfang habe er noch gelegentlich Audiodateien erstellt, mit denen die Chorsänger einzeln zuhause üben konnten. Unter dem sozialen Aspekt des Musizierens in Gemeinschaft ergäbe das aber wenig Sinn. Zumal der Vorbeireitsaufwand einfach in keinem Verhältnis zum Nutzen stehe.

Ein Chorsänger schaut in seine Noten
Bild: ©stock.abode.com/Gerhard Seybert

In der katholischen Kirche in Deutschland gab es laut dem Bonner Musikinformationszentrum (miz) im Jahr 2019 mehr als 13.300 Kirchen-, Jugend- und Kinderchöre, Choralscholen und Singkreise.

Aber nicht nur für die Chorgemeinschaft, auch für ihn selbst führe die gegenwärtige Situation zu der Frage, wie es künftig weitergehen soll, sagt der junge Familienvater. Der Wegfall der regelmäßigen Proben habe seinen Blick auf das zeitaufwändige Engagement als nebenberuflicher Kirchenmusiker verändert. Immer stärker zeichne sich ab, dass er "in Zukunft vermutlich nicht mehr jede Probe und jeden Feiertag mitnehmen werde, sondern mich öfter auch mal rausnehmen werde".

Zu diesen Überlegungen kommt ein Umstand hinzu, den Dold schlicht als "Systemfehler" bezeichnet: Da er als nebenberuflicher Chorleiter keine Festanstellung hat, sondern von der Kirchengemeinde auf Honorarbasis vergütet wird, bedeuten ausgefallene Proben für ihn ebenfalls den Ausfall seines Gehalts. Als Gymnasiallehrer sei er zwar nicht existenziell auf den Nebenverdienst als Dirigent angewiesen, aber das würde in vielen Fällen ganz anders aussehen, etwa bei Studenten oder Rentnern. Seiner Ansicht nach wird die Kirche der Verantwortung, die sie gegenüber ihren Mitarbeitern habe, nicht gerecht. Während er von den Gläubigen große Wertschätzung für seine Arbeit erfahre, so Dold, höre er von offizieller Seite "zwar ein Dankeschön, aber wie die Bezahlung läuft, fragt meistens niemand".

Unterschiedliche Anstellungsverhältnisse für Chorleiter und Organisten

Godehard Weithoff ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Ämter und Referate für Kirchenmusik der deutschen Diözesen (AGÄR). Das Gremium befasst sich mit verschiedensten bundesweiten Belangen im Bereich der Kirchenmusik. Weithoff erläutert, dass die Einstufung von nebenberuflichen Chorleitern als Freiberufler – Bezahlung nur auf Rechnung und nach erbrachter Leistung – arbeitsrechtliche Gründe habe: In den 1990er-Jahren hätten die Arbeitsgerichte einen Kriterienkatalog aufgestellt, wann eine Person freiberuflich arbeiten dürfe und wann sie angestellt werden müsse. Mit einer klaren Unterscheidung sollte verhindert werden, dass Firmen reihenweise Angestellte entlassen und auf Honorarbasis vergüten, um die Sozialabgaben an den Staat einzusparen. Für den kirchlichen Bereich sei damals entschieden worden, "dass beim Organisten die Parameter für ein Angestelltenverhältnis überwiegen, weil er einer 'stärkeren Weisungsgebundenheit unterworfen ist', wie die rechtliche Formulierung heißt, während beim Chorleiter die Parameter für eine freiberufliche Tätigkeit überwiegen, weil er terminlich und in der Auswahl des Repertoires freier ist", so Weithoff.

Zu den Bistümern, die bis heute diesen gesetzlichen Vorgaben folgen, zählt unter anderen die Erzdiözese Freiburg mit der Pfarrgemeinde von Florian Dold. Ersatzleistungen wie die Erstellung von Übungsdateien kann er sich laut einer Sonderregelung zwar vergüten lassen, sein Arbeitsausfall durch die fehlenden Chorproben wird aber als "eigenes unternehmerisches und wirtschaftliches Risiko" gewertet – ein für Dold befremdliches Vokabular angesichts der tragenden Rolle, welche die Kirchenmusik innerhalb des Gottesdienstes einnimmt. Anders sieht die Situation inzwischen in den meisten bayerischen Bistümern aus: Hier hat man der engen Bindung der Chorleiter an die liturgischen Vorgaben Rechnung getragen und ihre Arbeit dem Organistendienst gleichgesetzt. Als Folge dieser arbeitsrechtlichen Neubewertung erhalten nun auch nebenberufliche Dirigentinnen und Dirigenten eine Festanstellung und sind in Krisenzeiten finanziell abgesichert.

Systemische Probleme treten deutlicher zu Tage

Wie in vielen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens treten systemische Probleme durch die Corona-Krise deutlicher zu Tage: Zu den pandemiebedingten Probenausfällen kommen die Unzufriedenheit der Chormitglieder und Kirchenmusiker über institutionelle Defizite und arbeitsrechtliche Hürden. Um eine konkrete Perspektive "nach Corona" wird in den Bistümern und in den Chören vor Ort weiter gerungen. Inzwischen formieren sich erste Initiativen: So hat etwa die Diözese Rottenburg-Stuttgart das Förderprogramm "Chöre kontern Corona" ins Leben gerufen, mit dem innovative Ideen und Aktionen für den Wiedereinstieg unterstützt werden sollen.

Das selbe Ziel verfolgt das vom Bundesmusikverband Chor und Orchester getragene Programm "Neustart Amateurmusik", bei dem sich Chorformationen und Musikerensembles auf Fördergelder bewerben können. Auch die Geschäftsstelle des ACV wurde mit Mitteln des Bundesmusikverbands um zwei Mitarbeiterinnen verstärkt, die sich künftig ganz der Unterstützung der Kirchenchöre während und nach der Pandemie widmen. Angesichts solcher Projektanstöße und der großen ideellen Identifikation in den Chören blickt ACV-Präsident Schwemmer mit verhaltenem Optimismus in die Zukunft: "Ich denke, dass der Einschnitt durch Corona noch lange zu spüren sein wird. Dennoch wünsche ich mir sehr, dass das Chorsingen von Amateuren in der bisherigen Breite auch nach Corona weiterlebt."

Von Moritz Findeisen