Heribert Hallermann über die Reform des Codex Iuris Canonici

Neues kirchliches Strafrecht: Recht statt pastorale Willkür

Veröffentlicht am 03.11.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Würzburg ‐ Die Kirche will Rechtsgemeinschaft sein, keine Willkürgemeinschaft. Damit das so ist, braucht es ein gutes Kirchenrecht, ist der Würzburger Kirchenrechtler Heribert Hallermann überzeugt. Im katholisch.de-Interview analysiert er das neue kirchliche Strafrecht – und nennt Reformbaustellen.

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Am 8. Dezember tritt das neue kirchliche Strafrecht in Kraft, das Papst Franziskus im Sommer nach langem Vorlauf reformiert hatte: Künftig sollen Bischöfe das Strafrecht auch wirklich anwenden, hofft der Papst. Zu oft wurde statt einem ordentlichen Verfahren ein scheinbar pastoraler Weg des Umgangs mit Vergehen und Verbrechen in der Kirche gewählt. Damit das neue Recht Verbreitung findet, haben die Kirchenrechtler Markus Graulich und Heribert Hallermann den ersten Kommentar zu den neuen Regeln verfasst. Im Interview mit katholisch.de erläutert der Würzburger Kanonist Hallermann, was das reformierte Strafrecht bringt, wo es noch Reformbedarf gibt – und was die deutschen Bischöfe nun bei der Errichtung einer überdiözesanen Strafgerichtsbarkeit beachten sollten.

Frage: Herr Hallermann, jahrelang wurde über die Reform diskutiert, jetzt ist sie da. Warum hatte das kirchliche Strafrecht überhaupt eine Überarbeitung nötig?

Hallermann: Von Anfang an, also seit der Entstehung des neuen kirchlichen Gesetzbuchs, das von Papst Johannes Paul II. 1983 promulgiert wurde, gab es viel Kritik von Seiten der Kirchenrechtswissenschaft: Eine ganze Reihe von Formulierungen im kirchlichen Strafrecht erweckte den Eindruck, als ob der Gesetzgeber selbst davon abrate, das Strafrecht anzuwenden. Das war das eine. Das zweite: Seit dem Erscheinen des neuen Codex Iuris Canonici (CIC) gab es auch eine ganze Reihe von sehr unerfreulichen Entwicklungen in der Kirche, vor allem das Bekanntwerden des sexuellen Missbrauchs. Im Zuge dessen wurde eine ganze Reihe von eigenen Strafgesetzen erlassen, für diesen Bereich wie für andere Gebiete. Aus beiden Gründen schien es sinnvoll, das kirchliche Strafrecht zu überarbeiten: Um die außerkodikarisch geregelten Materien in den Kodex zu integrieren und das Strafrecht systematisch neu zu ordnen, und um Formulierungen so zu ändern, dass daraus hervorgeht, dass das Strafrecht auch wirklich angewendet werden soll. Dabei geht es nicht darum, eine Drohkulisse aufzubauen und ein Strafregime in der Kirche zu etablieren. Aber die Kirche braucht für bestimmte Fälle Maßnahmen, zu denen sie greifen kann, um Fehlverhalten zu sanktionieren.

Heribert Hallermann lehrte von 2003 bis 2016 Kirchenrecht an der Universität Würzburg.
Bild: ©Universität Würzburg (Archivbild)

Heribert Hallermann war von 2003 bis 2016 Professor für Kirchenrecht an der Universität Würzburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Rechte und Pflichten der Gläubigen. Der Eichstätter Diözesanpriester war zuvor in der Jugendarbeit, in der Erwachsenenbildung und im Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz tätig.

Frage: Wenn man die alte und die neue Fassung des Buchs VI des CIC nebeneinander legt, fällt auf, dass die Änderungen nicht so groß sind, wie man nach so langer Arbeit vielleicht hätte erwarten können.

Hallermann: Ja, der Ansatz war, das bestehende Strafrecht weiterzuentwickeln. Es liegt in der Natur des kirchlichen Rechts, dass man eher auf Evolution als auf Revolution setzt. Ganz formal sieht man das schon daran, dass sich das neue Buch VI genau in den Kodex einpasst und, obwohl es etwa ein Drittel mehr Text hat, weiterhin die Canones 1311 bis 1399 umfasst, wobei einige Normen umsortiert wurden.

Frage: Fehlt etwas bei der Reform?

Hallermann: Es wurde tatsächlich nur das materielle Strafrecht reformiert, das Prozessrecht ist unverändert geblieben. Das kann man an der Unschuldsvermutung sehen: Die wurde nun erstmals ausdrücklich im kirchlichen Strafrecht verankert. Das ist ein wesentlicher Fortschritt – aber daraus ergeben sich auch notwendigerweise Folgen für das Prozessrecht, also für die Art und Weise, wie man mit strafrechtlichen Fällen umgeht. Nach wie vor wird gemäß dem geltenden Prozessrecht davon ausgegangen, dass dann, wenn der äußere Straftatbestand feststeht, die Zurechenbarkeit vermutet wird. Der Beschuldigte kommt hier also eigentlich in die Verlegenheit, die eigene Unschuld zu beweisen. Das läuft dem Unschuldsprinzip aber genau entgegen, nachdem die Schuld bewiesen werden muss. Da sehe ich Reformbedarf in den benachbarten Rechtsfeldern.

Frage: Und im Strafrecht selbst?

Hallermann: Seelsorge ist das Kerngeschäft der Kirche. Seelsorge geschieht immer in Beziehungen – und in der Seelsorge sind diese Beziehungen notwendigerweise asymmetrisch: Es gibt in gewisser Weise ein Oben und Unten, Wissen und weniger Wissen, einen Seelsorger und die Person, die die Seelsorge empfängt. Solche asymmetrischen Beziehungen sind von Natur aus anfällig für Fehlverhalten, anfällig dafür, dass sie ausgenutzt oder missbraucht werden. Das ist ein Komplex, der mir bislang völlig fehlt im kirchlichen Strafrecht. Es gibt zwar in den Grundrechten der Gläubigen Bestimmungen zur Frage des Gehorsams, der Verantwortung für die Kirche, ein Recht auf geistliche Hilfe, auch seelsorgliche Verschwiegenheit ist geregelt. Aber die Verletzung dieser Grundrechte ist bislang nicht ausdrücklich sanktioniert. Das betrifft das zur Zeit stark diskutierte Thema des geistlichen Missbrauchs, der genauso in einzelne Tatbestände aufgeschlüsselt werden müsste wie der sexuelle Missbrauch.

Frage: Beim sexuellen Missbrauch verwendet das neue Strafrecht weiterhin die Formulierung von Verstößen "gegen das sechste Gebot". Das wurde im Vorfeld der Reform oft als zu unbestimmt kritisiert. Warum ist diese Formulierung geblieben?

Hallermann: Zunächst muss man klarstellen, dass das kein Containerbegriff ist, den man beliebig füllen könnte: Es ist ein Begriff, der aus der kirchlichen Rechtstradition kommt, was für die Entscheidung sicherlich ein wesentlicher Gesichtspunkt war. In der Tat wurde darüber ausführlich diskutiert – in der Kirchenrechtswissenschaft wie im Päpstlichen Rat für die Gesetzestexte. Verständlich wird die Formulierung dann, wenn man sie im Zusammenhang mit den entsprechenden Bestimmungen im Katechismus der Katholischen Kirche liest. Zudem bleibt es ja nicht bei dieser Formulierung, vielmehr werden nun die entsprechenden Straftatbestände sehr weit aufgefächert und konkretisiert. Explizit genannt werden beispielsweise verschiedene Formen des Verstoßes gegen die Zölibatspflicht, die Anwendung von Drohungen, Gewalt und Autoritätsmissbrauch für sexuelle Ziele, Kindesmissbrauch und Kinderpornographie. Es werden also einige Straftatbestände aufgeschlüsselt und so auch klar verfolgbar gemacht.

Frage: Also sehen Sie keine mangelnde Bestimmtheit in der Terminologie?

Hallermann: Nein. Ein alternativer Vorschlag, der eingebracht wurde, war eine Angleichung an den Ostkirchenkodex – dort ist von Verstößen gegen die Keuschheit die Rede. Damit kann ein heutiger Zeitgenosse doch noch weniger anfangen als mit dem Verweis auf das sechste Gebot, das aus der Rechtstradition stammt und dessen Bedeutung man im Katechismus nachlesen kann. Zumal es ja weiterhin die Möglichkeit gibt, bei Bedarf neues Recht zu schaffen, um neue Straftatbestände zu umschreiben, wie es in den letzten Jahren auch geschehen ist. Ein wichtiges Argument des Rates für die Gesetzestexte für die Beibehaltung war, dass jede andere Formulierung zu einer Einschränkung der Rechtsanwendung geführt hätte.

Cover des Kommentars zum neuen kirchlichen Strafrecht von Heribert Hallermann und Markus Graulich
Bild: ©Aschendorff-Verlag/Montage katholisch.de

Zusammen mit Pater Markus Graulich, dem Untersekretär des Rates für die Päpstlichen Gesetzestexte, hat Heribert Hallermann den ersten Kommentar zum neuen kirchlichen Strafrecht vorgelegt, der im November im Aschendorff-Verlag erscheint.

Frage: Die Absicht, keine Tat ungesühnt zu lassen, ist verständlich – aus Blick einer weltlichen rechtsstaatlichen Perspektive wirkt das aber sehr willkürlich. Im weltlichen Strafrecht gilt, dass nur bestraft werden darf, was auch explizit verboten ist. Das kirchliche Recht kennt zwar grundsätzlich auch ein Analogieverbot im Strafrecht, die Generalstrafnorm can. 1399 CIC konterkariert das aber völlig.

Hallermann: Es ist immer wieder rührend, wenn Rechtsstaatlichkeit als Kriterium für das kirchliche Recht angeführt wird. Das kann für die Kirche schlichtweg nicht gelten. Rechtsstaatliche Verhältnisse sind sicher ein wichtiger Vergleichspunkt für das kirchliche Recht, aber nicht der Maßstab. Maßstab muss sein, ob die Kirche mit ihrer Rechtsordnung den selbst gestellten Ansprüchen gerecht wird – und da ist tatsächlich der can. 1399 CIC ein Problem, an dem noch weiter diskutiert werden muss. Im ersten Teilsatz stellt dieser Canon den nulla-poena-Grundsatz auf: Es kann keine Strafe geben, wo es keine Strafbestimmung gibt. Das wäre auch unser rechtsstaatliches Prinzip, was wir in Deutschland erleben. Im nächsten Teilsatz wird dieser Grundsatz im Grunde auf den Kopf gestellt, indem gesagt wird, dass es bei schlimmen Vergehen auch dann eine Strafe geben kann, wenn das nicht im einzelnen geregelt ist. Zugleich wird aber im Strafrecht für eine Strafbarkeit Vorsatz als notwendig erachtet, und Vorsatz impliziert Wissen und bewusstes Handeln gegen bestehende Vorschriften – es ist also unklar, wie can. 1399 CIC überhaupt angewendet werden kann. Ich hatte gehofft, dass diese allgemeine Strafnorm bei der Reform wegfallen würde. Aber so wird die Diskussion wohl weitergehen.

Frage: Ist es wirklich nur "rührend", rechtsstaatliche Maßstäbe einzufordern? Gerade in Rechtsstaaten ist es doch wesentlich für die Akzeptanz eines kirchlichen Strafrechts im Kirchenvolk, dass in der Kirche nicht ein deutlich schlechterer Standard herrscht als im alltäglichen Erleben des Rechts.

Hallermann: Als Vergleichspunkt ist Rechtsstaatlichkeit durchaus richtig und wichtig. Für die Akzeptanz wird es auch darauf ankommen, das kirchliche Strafrecht zu kennen und Wege zu finden, wie es in die Breite der Kirche hinein transportiert wird, auch um Gläubige zu ermutigen, vermutete Rechtsverstöße in der Kirche anzuzeigen, um sie zu korrigieren. Dieses Rechtsbewusstsein fehlt noch viel zu oft, und das ermöglicht Seelsorgern und Oberen viel Willkür. Die Kirche will aber keine Willkürgemeinschaft sein, sie will eine Rechtsgemeinschaft sein, in der auch die Ansprüche, die Gläubige gegenüber Seelsorgern haben, eingelöst werden können. Das war auch eine Motivation für Pater Graulich und mich, das Strafrecht mit einem Kommentar in der kirchlichen Öffentlichkeit bekannter zu machen.

Frage: Das Recht selbst kann man transparent nachlesen. Weiterhin finden aber kirchliche Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, Entscheidungen müssen nicht veröffentlicht werden. Warum bleibt die Kirche bei der Anwendung ihres Rechts so diskret unter Ausschluss der Öffentlichkeit? Schadet das nicht auch der Akzeptanz des kirchlichen Rechts?

Hallermann: Das ist ein Kritikpunkt, den ich teile und schon wiederholt angesprochen habe. Das zeigt noch einmal, dass es jetzt auch eine Reform des Verfahrensrechts braucht. Ein Beispiel aus dem Strafrecht: Wir erwarten – auch das ist eine rechtsstaatliche Erfahrung –, dass ähnliche Vergehen ähnlich bestraft werden. Das folgt aus einem ganz grundsätzlichen Gerechtigkeitsempfinden. Damit Richter das aber sicherstellen können, und damit das dem Recht Unterworfene auch wahrnehmen, braucht es eine Veröffentlichung von Urteilen und ihren Begründungen. Das ist universalkirchenrechtlich bislang nicht so geregelt, höchstrichterliche Urteile kennen wir nur in eherechtlichen Fällen von der Römischen Rota – bei den anderen Rechtsgebieten fehlt das. Ein Schritt hin zu einer Vergleichbarkeit ist die Errichtung einer überdiözesanen Strafgerichtsbarkeit, wie es in Deutschland gerade geplant wird. Eine eigene Gerichtsbarkeit ermöglicht hier eine dringend nötige Professionalisierung und einen besseren Überblick zumindest der Richter über die Rechtsprechung. Ob dabei auch eine Veröffentlichung von Urteilen vorgesehen ist, weiß ich nicht. Ich hoffe, dass das geregelt wird, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es in Rom abgelehnt würde, wenn die deutschen Bischöfe das in den Entwurf für die Gerichtsordnung hineinschreiben würden.

Frage: Sie hoffen auf Transparenz – aber ist das auch eine berechtigte Hoffnung? Erst vor wenigen Jahren wurde mit der Kirchlichen Datenschutzgerichtsordnung der Rahmen für eine neue überdiözesane Gerichtsbarkeit geschaffen, und darin wird weder ein Öffentlichkeitsprinzip für die Verhandlungen noch eine Veröffentlichung der Beschlüsse normiert. Warum soll es beim Strafrecht jetzt besser werden?

Hallermann: Ob es besser wird, müssen sie die Autoren fragen, das sind die deutschen Bischöfe und vor allem weltliche Juristen, die die Ordnung für sie geschrieben haben. Ich weiß nicht, was jetzt geplant ist. Meine Hoffnung ist, dass es transparenter geregelt wird, weil bei rechtlichen Verfahren generell die Akzeptanz steigt, wenn Beschlüsse und ihre Begründungen veröffentlicht werden, und nur da Geheimhaltung angezeigt ist, wo es um den Schutz von Betroffenen geht. In diesem Sinn kann man auch die kürzlich erfolgte Aufhebung des "Päpstlichen Geheimnisses" in Missbrauchsverfahren verstehen. Die Geheimhaltungspraxis des kirchlichen Rechts führte bisher eher dazu, dass der Verdacht aufkommt, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Daher wären die Bischöfe gut beraten, wenn sie in ihren Gerichtsordnungen für Transparenz sorgen würden.

Frage: Das neue Strafrecht gilt ab dem 8. Dezember. Mit welchen Auswirkungen rechnen Sie dadurch in Deutschland, auch für die neue überdiözesane Strafgerichtsbarkeit?

Hallermann: Eine überdiözesane Strafgerichtsbarkeit würde eine klare Zuständigkeit und dadurch Professionalisierung und Vergleichbarkeit schaffen – und damit einen neuen Umgang mit kirchlichem Strafrecht. In den bischöflichen Offizialaten wird hauptsächlich Eherecht praktiziert, Strafrecht war bisher unter ferner liefen, seine Anwendung wurde regelrecht vermieden – und man konnte im bisherigen Strafrecht auch Argumente dafür finden, so zu handeln. Im Gercke-Gutachten konnte man das für das Erzbistum Köln gut nachlesen: Bisher hat man in vielen Fällen lieber einen angeblich "pastoralen" Weg gesucht, der weder transparent noch klar ist und auch nicht zu überprüfbaren und gerechten Ergebnissen geführt hat. Eine eigene Strafgerichtsbarkeit in Verbindung mit dem neuen Strafrecht sollte auch dem letzten Bischof klarmachen, dass strafrechtliche Lösungen von Missständen legitim und notwendig sind.

Von Felix Neumann