Die existenzielle Dimension
Denn die verstehen sich dezidiert als atheistisch und bringen das auch aktiv ein, was den sensiblen Porträts eine konstruktiv-neugierige, wohltuend moderne Distanz verleiht. Im Mittelpunkt steht eine Gruppe junger ostdeutscher Vikare und Vikarinnen Ende 20, die nach Abschluss ihres Theologiestudiums erste Erfahrungen in der Praxis sammeln. Parallel zum Einsatz in den Gemeinden treffen sie sich im Predigerseminar in Wittenberg.
Dort wollen sie ihre Erlebnisse reflektieren, an ihren praktischen Fähigkeiten wie Gesang und Rhetorik arbeiten – und "mit sich selbst ins Reine kommen", was nicht nur die Klärung offener Fragen meint, sondern existenzielle Dimensionen ins Spiel bringt. Die acht mal zwei Wochen dauernden Kurse, so der Ausbilder, dienen sowohl der persönlichen Selbstklärung als auch der Artikulation des individuellen Glaubens; am Ende des Vikariats sollen "reife" Persönlichkeiten ordiniert werden.
Obwohl man eine Menge über das Handwerk und die Ausbildung von Pfarrern erfährt, bleiben harte Informationen eher Beiwerk; auf bewährt mäandernden und dennoch zielstrebigen Wegen arbeiten sich Wright (Ton und Montage) und Kolbe (Kamera) vielmehr kunstvoll an ihre Protagonisten heran. Mit einem mosaikartigen Geflecht aus Bildern und Tönen bringen sie den Ort und seine architektonischen Eigenheiten, aber auch die reiche kirchliche Ästhetik, das Spiel aus Licht und Schatten, Körpern und Talaren sowie die Akustik auf wunderbare Weise zum Sprechen.
Filmemacher in den Bann geschlagen
Die "Lutherstadt" Wittenberg, das Zentrum der deutschen Reformation, und sein trutziger Schlossturm markieren in vielfach gebrochenen Perspektiven den historischen Ort: Über zwei Drittel aller Ostdeutschen gehört inzwischen keiner christlichen Kirche mehr an. Doch innerhalb der dicken Mauern schlagen brennende Kerzen und ein mehrstimmig intoniertes Kirchenlied selbst die Filmemacher in Bann, die sicht- und hörbar inspiriert an den Ritualen einer anscheinend irrationalen Veranstaltung partizipieren.
Dezente Einblendungen, die liturgische Formen ("Segen", "Abendmahl", "Morgenlob") identifizieren, vermitteln eine Art Rahmen, innerhalb dessen es dann sehr zielstrebig zu Sache geht: "Warum bist Du hier?", fragt Wright, "Was ist das Abendmahl"?, will er wissen. Und: "Hat mein Leben auch dann einen Sinn, wenn ich ihn nicht spüre?"
Die Art der Antworten auf solche Interventionen und ihre filmische Form verraten viel über die außergewöhnliche dokumentarische Kunst des Regie-Duos: Es gibt kaum gestanzte Theologensätze, eher stammelnde Versuche, Pausen, intime Nachdenklichkeit. Die im Bild immer mal wieder anwesenden Filmemacher sind wesentlicher Teil einer Begegnung, die auf gegenseitigem Vertrauen basiert.
Nahaufnahme ist das vorherrschende Format
Das vorherherrschende Filmformat ist deshalb die Nahaufnahme, auch im übertragenen Sinne: Die mitunter sehr persönlichen Gespräche gehen in die Tiefe, weiten sich aber nicht zu herkömmlichen Porträts oder gar zu einem Gruppenbild; trotzdem gewinnt man einen guten Eindruck von der großen Bandbreite der Persönlichkeiten und ihrer intellektuell-religiösen Profile.
"Pfarrer" ist ein extrem reicher, vielgestaltiger und zugleich äußerst kurzweiliger Film, der sich mit bewundernswerter Gelassenheit auf seine Protagonisten einlässt und die großen Themen Schuld und Versöhnung, Tod und Vergänglichkeit über die Gespräche hinaus zum Klingen bringt. Weltanschaulich-kritische Exkurse über den Gottesglauben oder die konkrete Gestalten von Religion bleiben außen vor; statt dessen begegnet man einem inspirierten, geradezu swingenden Versuch, das Tun und die individuelle Selbstdeutung der angehenden Pfarrer quasi von innen heraus zu verstehen.
Der Respekt des Films und seiner Regisseure artikuliert sich dabei nicht nur im Eingeständnis, von der psychischen Dynamik der Ausbildung überrascht worden zu sein, sondern mehr noch im Fluss der sprechenden Bilder, die am Ringen der Protagonisten solidarisch-"nicht glaubend" Anteil nehmen.
Von Josef Lederle
