Geplanter Verkauf des Marienthaler Psalters sorgte für Aufsehen

Kunstschätze in Gefahr? Von der kulturellen Verantwortung der Klöster

Veröffentlicht am 09.06.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Über Jahrhunderte waren die Klöster Zentren der Gelehrsamkeit – heute kämpfen viele ums Überleben. Die Marienthaler Schwestern stehen in der Kritik, weil sie aus Geldnot eine kostbare Handschrift verkaufen wollen. Dürfen Klöster ihre Kunstschätze einfach hergeben? Kann man die Kulturgüter schützen?

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Im selben Jahr, in dem Kaiser Justinian die Platonische Akademie in Athen schließen ließ, gründete Benedikt von Nursia in Norditalien die Abtei Montecassino, die Wiege des abendländischen Mönchtums. Beide Ereignisse werden in der Überlieferung auf das Jahr 529 datiert und Historiker sahen in diesem Zufall oft ein Sinnbild für den weiteren Geschichtslauf: In den Folgejahrhunderten wurden die Klöster Europas Bildungsträger Nummer eins. Sie entwickelten sich zu Zentren der Gelehrsamkeit und lösten mit ihrem christlichen Weltbild die Philosophie der alten Griechen ab. 

Dieses mittelalterliche Erbe lebt in den Klöstern bis heute fort. Zwar haben sie längst ihre Rolle als führende Wissensanstalten eingebüßt, doch verwahren sie vielerorts noch immer die Schätze ihrer einstigen Größe: bedeutende Baudenkmäler, Kunstwerke und Handschriften von kaum schätzbarem Wert – sowie das kulturelle Erbe ihrer außergewöhnlichen Lebensweise. Diese Güter geraten zunehmend in Gefahr, denn viele Klöster leiden unter Mitgliederschwund und Geldnot. Wem gehören die Kunstgegenstände, wenn die Klostergemeinschaften sie nicht mehr halten können? Dürfen Kirchenschätze von besonderem kulturellem Wert einfach so verkauft werden? 

All diese Fragen berührt gegenwärtig der Fall der sächsischen Abtei St. Marienthal. Das Zisterzienserinnenkloster ist das älteste Frauenkloster des Ordens in Deutschland. Es wurde Anfang des 13. Jahrhundert gegründet und hat seitdem Reformation, Aufklärung und zahlreiche Kriege überdauert. Idyllisch schmiegt sich die barocke Klosteranlage in Ostritz südlich von Görlitz in die Auen der Neiße. Eben diese Lage wurde der Abtei zum Verhängnis: Nicht zum ersten Mal, aber besonders verheerend hat sie das schwere Neiße-Hochwasser von 2010 getroffen. Mehr als zwanzig Millionen Euro Schaden verursachte die Flut, erst kürzlich konnten die Instandsetzungen abgeschlossen werden. 

Verkauf des Marienthaler Psalters als letzter Ausweg?

Trotz umfangreicher Fördermittel des Freistaats Sachsen und zahlreicher Spenden ist das Kloster nach der Renovierung so gut wie pleite. Zumal die Corona-Pandemie den Besucherbetrieb im Kloster zeitweise zum Erliegen gebracht und zu Einnahmeausfällen geführt habe, wie Äbtissin Schwester Maria Elisabeth Vaterodt im Interview mit katholisch.de sagte. Nachdem man bereits die Altersvorsorge der Schwestern zur Deckung der Kredite ausgegeben habe, entschied sich die Gemeinschaft zu einem unkonventionellen Schritt: Sie will den Marienthaler Psalter (Titelbild), eine Prachthandschrift aus dem 13. Jahrhundert verkaufen, um die Existenz des Klosters zu sichern. 

Politik und Kunstwelt reagierten mit Entsetzen. Für Kritik sorgte insbesondere die Entscheidung der Schwestern, die Handschrift über einen schweizerischen Kunsthändler anzubieten. Der Versuch, auf dem freien Markt einen möglichst hohen Kaufpreis zu erzielen, birgt laut Kritikern die Gefahr, dass das Buch in einer privaten Sammlung verschwinden und so der Öffentlichkeit entzogen werden könnte. Experten erkennen in dem Psalter ein Kunstwerk von europäischem Rang, das der Allgemeinheit gehöre und das man deshalb nicht einfach auf dem internationalen Kunstmarkt verscherbeln dürfe. 

"Das Buch ist kulturgeschichtlich und landeshistorisch von unschätzbarem Wert", sagt Christoph Mackert, der Leiter des Handschriftenzentrums der Universitätsbibliothek Leipzig. Dort wurde der Marienthaler Psalter ausführlich erforscht und im Rahmen eines Forschungsprojekts digitalisiert. Neben dem materiellen Wert des Buches betont Mackert gegenüber katholisch.de vor allem die Bedeutung der Klosterbibliothek als Gesamtkunstwerk: "Die Handschriften der Abtei Marienthal sind nicht nur als einzelne Textträger äußerst wertvoll, sie bilden darüber hinaus ein herausragendes Kunstensemble, das uns äußerst seltene Einblicke in die Geistesgeschichte Sachsens ermöglicht. Würden einzelne Bücher aus der Sammlung entfernt, wären diese Forschungsmöglichkeiten für immer verloren."

Die Zisterzienserinnen-Abtei St. Marienthal
Bild: ©KNA/Martin Jehnichen

Die Abtei St. Marienthal in der sächsischen Oberlausitz ist das älteste Zisterzienserinnenkloster Deutschlands. Es besteht durchgehend seit Anfang des 13. Jahrhundert und beherbergt eine Sammlung kostbarer Handschriften.

Steht noch immer die Frage im Raum: Dürfen Klöster ihre Kunstgegenstände einfach so verkaufen? Grundsätzlich ja, antwortet Mackert. Die Güter eines Klosters seien aus rechtlicher Perspektive Privatbesitz und fielen deshalb nicht unter das sogenannte Kulturgutschutzgesetz. Die bundesgesetzliche Regelung aus dem Jahr 2016 soll verhindern, dass Kunstwerke von nationaler Bedeutung aus Deutschland ausgeführt werden – ebenso sollen Kulturgüter fremder Nationen möglichst wieder an ihr Ursprungsland zurückgegeben werden. Kirchen und Klöster könnten ihren Kunstbesitz auf Antrag in die Liste der staatlich zu schützenden Güter aufnehmen lassen, aber das sei freiwillig, erklärt Mackert. Als Angehörige eines Ordens päpstlichen Rechts müssten die Marienthaler Schwestern lediglich beim Heiligen Stuhl um Erlaubnis bitten, wenn sie Teile ihres Besitzes veräußern wollten, was wohl auch geschehen sei. 

Der Wissenschaftler macht den Zisterzienserinnen trotzdem schwere Vorwürfe: Zum einen hätten sie mit dem Verkaufsvorhaben gegen eine Vertragsklausel im Zusammenhang mit seinem Forschungsprojekt verstoßen. Die wissenschaftliche Erschließung der Handschriften wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert, im Gegenzug habe sich das Kloster schriftlich verpflichtet, den Kunstbestand dauerhaft zu bewahren. "Was die Äbtissin macht, ist ein klarer Vertragsbruch", sagt Mackert. Zum anderen gebe es bereits seit vergangenem Jahr Gespräche über einen möglichen Verkauf Marienthaler Bibliotheksbestände an den Freistaat Sachsen, der daran interessiert ist, die Handschriften und weitere Bücher öffentlich zugänglich zu halten. Nun hätten sich die Schwestern vor Ablauf der Verhandlungsfrist an den externen Kunsthändler gewandt, der neben extrem hohen Verkaufspreisen, die er regelmäßig ansetzt, auch für seine hohen Provisionen bekannt sei. 

„Wir müssen uns fragen, was wichtiger ist: die Zukunft unseres Konvents zu retten oder alle unsere materiellen Werte zu erhalten. Beides zusammen geht nicht mehr.“

—  Zitat: Schwester Maria Elisabeth Vaterodt

Um solche Fälle in Zukunft zu verhindern, wünscht sich Mackert eine Erweiterung des Kulturgutschutzgesetzes: "Die Kirchen und Klöster sind die Hauptgedächtnisträger für den Bereich des Mittelalters. Wenn sie aus finanziellen Gründen nicht mehr in der Lage sind, dieser Verantwortung gerecht zu werden, sollte eine staatliche Taskforce in Zusammenarbeit mit den kirchlichen Stellen die Möglichkeit erhalten, gefährdete Kulturgüter in die öffentliche Hand zu überführen."

Inzwischen räumten die Marienthaler Schwestern Fehler ein. Ihnen sei es vor allem darum gegangen, "den Wert der Bücher für einen potentiellen Verkauf zu ermitteln". Dabei sei "eine Dynamik entstanden, die wir nicht gewollt und deren Größe wir unterschätzt haben", hieß es in einer Erklärung von Äbtissin Elisabeth Vaterodt. Im katholisch.de-Interview kritisierte sie jedoch, dass das Land lediglich 1,2 Millionen für den Kauf des Psalters geboten habe, was dem Ernst der Lage nicht gerecht werde. Es brauche "einen signifikanten Millionenbetrag", um die Abtei finanziell zu konsolidieren. Die Äbtissin verteidigte ihr Vorgehen: "Ich muss vor Gott und meinem Gewissen verantworten, was wir hier tun, und ich muss mich fragen, was wichtiger ist: die Zukunft unseres Konvents zu retten oder alle unsere materiellen Werte zu erhalten. Beides zusammen geht nicht mehr."

Äbtissin Elisabeth M. Vaterodt
Bild: ©picture alliance/dpa/Nils Holgerson

Schwester Maria Elisabeth Vaterodt ist Äbtissin der Abtei St. Marienthal. Ihr Wunsch: "Wir wollen, dass Schwestern und Bücher bleiben."

Jakob Johannes Koch hat Verständnis für die prekäre Situation der Schwestern. Er ist Kulturreferent der Deutschen Bischofskonferenz und weiß, auf welche finanziellen Probleme viele Klöster zusteuern. "Fälle wie der um den Marienthaler Psalter sind typisch für unsere Zeit, in der es den Orden massiv an Nachwuchs fehlt. So etwas wird in Zukunft häufiger vorkommen", sagt Koch im Gespräch mit katholisch.de. Viele Ordensgemeinschaften sind überaltert und verlieren rasant Mitglieder. In den Frauenorden sieht die Statistik besonders düster aus: Laut Information der Deutschen Ordensoberenkonferenz sind nur noch rund 17 Prozent der in Deutschland lebenden knapp 18.000 Ordensfrauen unter 65 Jahre alt. Jährlich verlieren die Frauengemeinschaften etwa 1.000 Schwestern. Mit den sinkenden Mitgliedszahlen aber gehen die wirtschaftlichen Probleme einher, die letztlich zur Entscheidung führen, sich von einzelnen Besitztümern zu trennen oder einen Konvent ganz zu schließen. 

"Das sind immer auch menschliche Tragödien", sagt Koch. Für Menschen, die ihr Leben lang in einem Kloster verbracht haben, bedeute die Auflösung des Konvents einen tiefgreifenden biografischen Einschnitt. Gleichzeitig hätten die Orden von ihrem Selbstverständnis her aber ein sehr unpersönliches Verhältnis zu materiellen Dingen. "Ein Konvent ist nicht notwendigerweise an den Ort und die Immobilie gebunden. Er ist dort, wo die Mitglieder sind. Und wenn es an einem Ort zu wenig sind, dann wird die Niederlassung geschlossen und die restlichen Ordensleute wechseln in einen größeren Konvent – das haben sie schon immer so gemacht", erklärt der Kulturreferent. Gleiches gelte auch für die Ausstattung der Klöster: "Was nicht mehr gebraucht wird, kann notfalls auch weggeben werden. Es geht den Orden um den Erhalt des 'Tempels der Herzen', nicht um den aus Stein."

Unterschied zwischen Kultur und Kultus gewährleisten

Diese Abwägung spiele auch im diözesanen Bereich eine zunehmend wichtige Rolle. Zwar sei der Finanzdruck in den meisten Diözesen noch nicht so groß wie bei den Klöstern. Die rapide sinkenden Mitgliederzahlen machten aber auch hier immer häufiger Verkäufe von kirchlichem Besitz notwendig. Vor allem zahlreiche Gebäude stehen auf der Abstoßungsliste. Im kommenden Jahr plant die Deutsche Bischofskonferenz deshalb, eine neue Arbeitshilfe zur Neugestaltung und Umnutzung von Kirchen zu veröffentlichen. Was das oft wertvolle Inventar betrifft, komme den Diözesen jedoch zugute, dass sie über eine professionelle Kulturgutverwaltung verfügten, die Kulturgüter beispielsweise zur Verwendung in einer anderen Kirche vermittelt könne. Verkauf an den freien Kunstmarkt komme da bisher nicht in Frage, so Koch. 

Eine Ausweitung des Kulturgutschutzgesetzes lehnt er ab: "Die Ausnahme kirchlicher Kunstwerke aus der Regelung ist wichtig, um den Unterschied zwischen Kultur und Kultus zu gewährleisten. Sonst könnten staatliche Stelle womöglich einmal entscheiden, ob ein kostbarer Kelch noch im Gottesdienst verwendet werden darf oder nicht. Er hat aber einen sakralen Charakter und wurde bei aller kunsthistorischen Bedeutung nun einmal für den Kultus geschaffen." 

Aber muss der vom Staat angestrebte Schutz von Kulturgütern zwingend so ausgelegt werden, dass sie nicht mehr benutzt werden dürfen? Möglicherweise böte das Bundesgesetz auch die Chance, finanziell angeschlagene Institutionen in ihrer materiellen Verantwortung abzulösen, ohne ihnen die ideelle Deutung und den Gebrauch der Kunstschätze zu nehmen. Für den Kultus geschaffen wurde auch der Marienthaler Psalter – und doch ist er heute Gegenstand der Forschung und des öffentlichen Interesses. Der Wunsch, den Äbtissin Elisabeth Vaterodt zu Beginn ihrer Erklärung äußert, gibt jedenfalls Hoffnung, dass die bedeutende Handschrift nicht in einer privaten Vitrine verschwindet: "Wir wollen, dass Schwestern und Bücher bleiben."

Von Moritz Findeisen