Das Brot der Engel

In der Lübecker Manufaktur Niederegger hat das Herstellen der weißen Köstlichkeit seit über 200 Jahren Tradition. Es war das Jahr 1800, als der 23-jährige Konditorgeselle Johann Georg Niederegger von Ulm in die Hansestadt kam, wo sich die Ratsherren schon seit 1600 mit der orientalischen Spezialität verwöhnen ließen. Lübeck saß als damals größte Ostsee-Hafenstadt an der Quelle: Der kostbare Zucker kam aus Übersee, die Mandeln aus dem Mittelmeerraum. Mit Glück und Geschick gelang es dem jungen Mann, sich ab 1806 als größter Marzipan-Konditor zu etablieren. Inzwischen besteht das Unternehmen in siebter Generation.
Das Holstentor in Lübeck mit den Türmen der Marienkirche links und der Petrikirche rechts.
"Wir verarbeiten täglich bis zu 30 Tonnen Marzipan-Rohmasse und exportieren in 32 Länder", versucht Unternehmenssprecherin Eva Mura den ohrenbetäubenden Lärm in der Rohmassenverarbeitung zu übertönen. Den geschützten Markennamen Lübecker Marzipan zeichnet seine besondere Rezeptur aus: Der Rohmasse, die zu einem Drittel aus Zucker, zu zwei Dritteln aus Mandeln und sogenanntem Rosenwasser besteht, wird kein weiterer Zucker beigemischt. Denn: "Je höher der Mandelanteil, desto feiner das Produkt", betont die junge Frau und weist auf die großen Karren, in denen die sämige Masse ihrer Weiterverarbeitung in rund 300 Artikel harrt. Daran feilen insgesamt 500 Festangestellte, zur Weihnachtsproduktion ab Spätsommer kommen weitere 200 Kräfte hinzu.
Auch kommen nicht die großen Mandeln aus Kalifornien, sondern nur die schmackhafteren aus Italien, Südspanien und Mallorca auf den Tisch des Hauses. Sie werden in Jutesäcken angeliefert und in mannshohen Brühkesseln von den zimtbraunen Häutchen befreit. Ein Metalldetektor, eine Infrarotkamera und immer wieder das menschliche Auge in der Endkontrolle sorgen für makellose Qualität der Früchte. Dann folgt die feierliche Vereinigung der beiden Hauptbestandteile: Aus zwei gigantischen Trichtern fließen Mandeln und Zucker, über eine elektronische Waage im punktgenau ermittelten Verhältnis gemischt, zusammen. Es knirscht erheblich, als die gezuckerten Mandeln über Granitwalzen zermahlen werden. Anschließend wird die Masse eine Dreiviertelstunde lang in einem der 20 offenen Kessel geröstet - ein verführerischer Duft durchzieht die Fabrikhalle. "Das Verfahren erfolgt wie vor über 200 Jahren über der offenen Gasflamme", sagt Mura. Bei Temperaturen über 90 Grad schmelzen die Zuckerkristalle, und das typische Aroma entfaltet sich.
Streng geheime Rezeptur
Dann heißt es für die Rohmasse, ab in Kühlkessel mit Trockeneis, wo sie ein paar Tage ruht und anschließend in Blöcke abgepackt wird. Beim nächsten Produktionsschritt zeigt sich eine ungeahnte Parallele zu einem US-amerikanischen Limonadenhersteller. "Wir haben auch ein 'süßes Geheimnis'. Wie Coca Cola", weist Eva Mura auf die großen Knetmaschinen in der nächsten Halle. Das einst vom Unternehmensgründer verwendete Rosenwasser haben seine Nachfahren zu einer speziellen Rezeptur weiterentwickelt, die heute nur fünf Menschen kennen.
Schließlich geht es an das Ausformen, Schokolieren und Verpacken der Marzipanprodukte. In vier Fabrikstraßen können unterschiedliche Geschmacksrichtungen und Formen gefertigt werden. "Unser Klassiker ist nach wie vor die Marzipanpraline mit Zartbitter-Schokolade", sagt Eva Mura. Der Klassiker ist in Rot verpackt, aber an den Frauen am Fließband ziehen auch Pralinen in Violett, Orange, Grün oder Gelb vorbei; Sterne, Herzen oder Taler, in heller oder Bitter-Schokolade, mit Espresso oder Maracuja-Note, je nach Saisongeschmack.
Eine Mitarbeiterin der Lübecker Manufaktur Niederegger bemalt einen Marzipan-Seemann.
Ein Stockwerk höher in der Schminkerei gibt es keine lärmenden Maschinen, sondern gedämpfte Unterhaltung. Zwölf Schminkerinnen sitzen an den Maltischen, in den Händen feine Pinsel zum diffizilen Verschönern der Marzipanteile. "Ich finde das sehr abwechslungsreich, denn die Produkte wechseln ja ständig", sagt Karin Ventur, seit über 25 Jahren im Unternehmen. Gerade hat sie einem Weihnachtsmann mit Lebensmittelfarbe rote Bäckchen und blaue Augen gemalt. Aber auch Elche, Engel und Tannenbäumchen hat sie in Arbeit. Das Unternehmen nimmt auch Einzelaufträge entgegen und stellt dazu auch die Formen her: Der Porsche zum 50. des Autofans, Marzipan-"Tischkarten" für den Kindergeburtstag, der Kölner Dom oder Taler zur Seligsprechung der Lübecker Märtyrer im Juni 2011.
Die Herkunft der Bezeichnung Marzipan ist fast so sagenumwoben wie das "süße Geheimnis": Historiker leiten sie vom italienischen "Marci pani", "Markusbrot", ab, war doch der Heilige Markus Schutzpatron Venedigs und der Bäcker. Andere sehen den Ausgangspunkt beim arabischen Wort "Mauthaban" für "sitzender König". Es bezeichnete eine byzantinische Münze mit einem sitzenden Christus. Die Venezianer führten diese Münze als "Matapan" oder "Marzapan" im 13. Jahrhundert für eine Münze ein, die genau dem Wert einer Schachtel Konfekt entsprach.
Wo auch immer das Wort gründet, zu allen Zeiten wurde Marzipan mit höchsten Mächten in Verbindung gebracht. Das zeigt auch der Beiname "Das Brot der Engel", wie auch eine aktuelle Ausstellung im Weihnachtshaus Husum betitelt ist. In Europa durfte Marzipan ursprünglich nur von den Apothekern zubereitet werden - auch, weil ihm heilende und sogar aphrodisierende Wirkung zugeschrieben wurde. Wissenschaftliche Belege gibt es dafür nicht, doch fühlen sich Liebhaber des Naschwerks - trotz des hohen Kaloriengehalts - zumindest beflügelt. Wie Engel eben.
Von Sabine Kleyboldt