Untersuchungsbericht vorgestellt, Aktionsplan angekündigt

Abtei Saint-Maurice räumt massive Fehler im Umgang mit Missbrauch ein

Veröffentlicht am 20.06.2025 um 12:51 Uhr – Lesedauer: 

Saint-Maurice ‐ Knapp 70 Fälle sexualisierter Gewalt, 30 beschuldigte Chorherren: Der Bericht der Untersuchungskommission zeichnet ein düsteres Bild vom Versagen der Abtei Saint-Maurice. Das Kloster reagiert betroffen – und kündigt rasches Handeln an.

  • Teilen:

Die Schweizer Abtei Saint-Maurice räumt massive Versäumnisse im Umgang mit Missbrauch ein. Anlässlich der Vorstellung des Berichts der von dem Orden beauftragten unabhängigen Untersuchungskommission am Freitag kündigte das Kloster einen Aktionsplan an. "Dieser Bericht zwingt uns, der schmerzhaften Realität ins Auge zu sehen, das zu hören, was wir nicht hören wollten, und bedingungslos um Vergebung zu bitten. Es ist eine Wunde, die uns alle betrifft, bei der aber die Betroffenen immer an erster Stelle stehen werden", so die Erklärung.

Die Untersuchung kam zu dem Schluss, dass es in der Augustiner-Chorherren-Abtei jahrzehntelang mindestens 67 Fälle sexualisierter Gewalt, die von mindestens 30 Chorherren verübt wurden, gegeben habe. Das Kloster hätte aber erst auf Druck der Öffentlichkeit reagiert. Untersucht wurde der Zeitraum von 1960 bis 2024, insgesamt konnten 50 Zeugen und 24 Geistliche befragt werden. Bei den Vorfällen handelt es sich dem Bericht zufolge um "Gesten oder Äusserungen mit sexuellen Anspielungen in einem Machtverhältnis, wiederholte sexuelle Berührungen, zweideutige Fotosessions, Verführungsversuche in einem Machtverhältnis, Exhibitionismus oder der Konsum von Kinderpornografie". Außerdem habe es Fälle von sexuellen Übergriffen, Vergewaltigungen und Zwangsabtreibungen gegeben. Seit 1970 seien fünf Strafverfügungen gegen drei Chorherren und einen Novizen erlassen worden. Viele Prozesse seien aber mangels hinreichender Anklagepunkte oder wegen Verjährung eingestellt worden. Die Studie wirft den verantwortlichen Äbten und den Behörden im Wallis Versagen vor. Nicht untersucht wurden den Angaben der Forschungsgruppe nach die Vorwürfe gegen den amtierenden Abt, Jean César Scarcella. Man habe keine Akteneinsicht in die kircheninterne Untersuchung erhalten.

Abtei will "Kultur des Schweigens und der Verharmlosung" ändern

"Die Kongregation der Chorherren der Abtei Saint-Maurice nimmt die genannten Zeugenaussagen mit Demut und Schmerz auf und nimmt die von der unabhängigen Expertengruppe unter der Leitung von Pierre Aubert festgestellten Fälle mit Ernst und Reue zur Kenntnis", heißt es dazu in der Mitteilung des Klosters. Die Arbeit der Untersuchungskommission bringe schwerwiegende Tatsache, inakzeptables Verhalten und systemische Missstände ans Licht: "Die Abtei erkennt an, dass es eine Kultur des Schweigens und der Verharmlosung gab, die die Fähigkeit zum Zuhören, das Verantwortungsbewusstsein und die Wachsamkeit der Gemeinschaft geschwächt hat." Man habe wiederholt versäumt, Hinweise auf teils schwerwiegendes Fehlverhalten aufzunehmen.

Abt Jean Scarcella steht im Habit in der Abteikirche
Bild: ©Abtei Saint-Maurice (Archivbild)

Jean César Scarcella ist der 95. Abt der Schweizer Augustiner-Chorherren-Abtei von Saint-Maurice. Nach Vorwürfen ließ er sein Amt ruhen. Der Vatikan stellte aber keine Verfehlungen fest, so dass er mittlerweile wieder die Leitung der Abtei übernommen hat.

Um den festgestellten Mängeln zu begegnen, leitet die Abtei nun einen "tiefgreifenden Wandel ein, damit sich solche Taten nie wiederholen, ignoriert oder vertuscht werden können". Dazu wird ein Beratungsausschuss für Führungsfragen eingerichtet, der sich aus männlichen und weiblichen Laien und Fachleuten aus dem religiösen Bereich zusammensetzen soll. Auch der Abt gehört dem Gremium an. Den Vorsitz soll ein Laie übernehmen. Die Arbeit des Gremiums soll sich fünf Aufgabenbereichen widmen: Offenheit gegenüber den Betroffenen, Reform der Leitung, Prävention und Ausbildung, Aufarbeitung sowie Dialog mit der Zivilgesellschaft. Außerdem wird eine unabhängige Ansprechperson ernannt, an die sich Betroffene wenden können. "Wir wollen, dass die Abtei kein Ort des Schattens und des Schweigens mehr ist. Der Aktionsplan, den wir umsetzen, wird die Fenster öffnen, die Wahrheit ans Licht bringen und unsere Zukunft in Transparenz und Verantwortung verankern", so der Sprecher der Abtei, Pater Antoine Salina.

Abt nach Entlastung durch Vatikan wieder im Amt

Die Aufarbeitungskommission wurde durch die Abtei im Juni des vergangenen Jahres unter der Leitung des Neuenburger Generalstaatsanwalts Pierre Aubert eingerichtet. Neben Aubert bestand die Kommission aus vier Historikerinnen der Universität Fribourg.

Seit mehreren Jahren steht die Abtei durch Missbrauchsvorwürfe im Licht der Öffentlichkeit. Abt Scarcella hatte sein Amt im September 2023 ruhen lassen, nachdem ihm vorgeworfen wurde, er habe einen Jugendlichen sexuell belästigt. Weitere Vorwürfe wurden im November darauf durch eine Reportage des öffentlich-rechtlichen Schweizer Fernsehens RTS ans Licht gebracht. Insgesamt wurden neun Chorherren beschuldigt, von denen fünf noch leben. Zu den Beschuldigten gehörte auch der Prior des Klosters, Roland Jaquenoud, der die Abtei nach dem Rückzug des Abtes zunächst leitete. Jaquenod trat daraufhin als Prior zurück. In der Woche darauf ernannte Papst Franziskus den ehemaligen Oberen der Kongregation des Großen Sankt Bernhard, Jean Michel Girard, zum Apostolischen Administrator der Abtei. Das Mandat Girards endete im März, nachdem der Vatikan die Vorwürfe gegen Abt Scarcella eingestellt hatte und er die Amtsgeschäfte wieder aufnahm. Missbrauchsbetroffene reagierten mit Empörung auf die Rückkehr Scarcellas ins Amt. "Kulturwandel sieht definitiv anders aus! So kann kein Vertrauen geschaffen werden!", hieß in einer gemeinsamen Erklärung von drei Betroffenenverbänden.

Die Abtei Saint-Maurice ist ein Kloster der Augustiner-Chorherren im Schweizer Kanton Wallis. Sie gilt als ältestes ohne Unterbrechung bestehendes Kloster des Abendlandes. Als Territorialabtei ist das Kloster und ein zu ihm gehörendes Gebiet von fast 100 Quadratkilometern einem Bistum gleichgestellt. Die Vorsteher von Territorialabteien gehören durch ihr Amt der jeweiligen Bischofskonferenz an, obwohl sie in der Regel nicht zu Bischöfen geweiht sind. (fxn)

Abschlussbericht im Volltext

Der Abschlussbericht der Untersuchungskommission wurde in französischer Sprache im Volltext veröffentlicht: "Analyse sociohistorique et juridique des violences sexuelles à l'Abbaye de Saint-Maurice (1960-2024) : Rapport du groupe de travail indépendant"