Religionssoziologe: Das Sakrale wird heute kaum noch respektiert

Gestohlene Kunstwerke, zerstörte Altäre, beschmierte Fassaden: Immer öfter werden Kirchen in Deutschland Opfer von Diebstahl und Vandalismus. Für gläubige Menschen bedeutet das mehr als eine bloße Sachbeschädigung – es ist ein Angriff auf einen heiligen Ort. Im katholisch.de-Interview erläutert der Leipziger Religionssoziologe Gert Pickel die Hintergründe dieser Entwicklung, die Rolle von Säkularisierung und Missbrauchsskandalen – und warum er keine schnelle Entspannung der Lage sieht.
Frage: Professor Pickel, zuletzt gab es vermehrt Berichte über eine Zunahme von Übergriffen auf Kirchen in Deutschland; auch die Deutsche Bischofskonferenz hat Ende August eine steigende Zahl an Diebstählen und Vandalismusfällen beklagt. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Pickel: Das hängt mit den tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte zusammen. Lange Zeit hatten die Kirchen in Deutschland ein hohes Ansehen, das Sakrale wurde respektiert. Viele Menschen hatten das Gefühl, man dürfe Kirchen nicht antasten – vielleicht auch aus Angst vor dem sprichwörtlichen "Zorn Gottes". Dieser Respekt ist stark gesunken. Zum einen durch die zunehmende Säkularisierung, zum anderen durch einen enormen Autoritätsverlust der Kirchen. Für viele Menschen sind Kirchen heute schlicht keine besonderen Orte mehr. Warum die Zahl der Übergriffe gerade in jüngster Zeit so stark angestiegen ist, ist allerdings schwer zu sagen, weil uns dazu verlässliche Daten fehlen. Man kennt aber aus der Kriminalitätsforschung den sogenannten Nachahmungseffekt: Wenn einer anfängt, machen andere nach. Möglicherweise ist das eine Erklärung für den jüngsten Anstieg.
Frage: Stichwort Säkularisierung: Sie sehen also einen direkten Zusammenhang zwischen der anhaltend hohen Zahl an Kirchenaustritten und der Zunahme an Übergriffen auf Kirchengebäude?
Pickel: Die Zahl der Kirchenaustritte allein erklärt die Zunahme an Übergriffen sicher nicht. Entscheidend ist der mit den Austritten einhergehende soziale Bedeutungsverlust von Religion. Wir wissen schließlich, dass selbst viele Menschen, die noch Kirchenmitglied sind, heute nicht mehr an Gott glauben und Religion keine größere Bedeutung mehr beimessen. All das sorgt mit dafür, dass Kirchengebäude vielen Menschen nicht mehr "heilig" sind. Hinzu kommt natürlich, dass Gotteshäuser für Diebe ein vergleichsweise "leichter" Ort sind, um an wertvolle Gegenstände zu kommen – schließlich sind sie oft unzureichend gesichert und frei zugänglich. Vandalismus folgt noch einmal anderen Mustern: Da reicht es manchmal, dass eine Jugendclique nach einer Feier zu viel getrunken hat und Lust auf Zerstörung hat. In solchen Fällen sind Kirchengebäude eher zufällige Opfer.
„Menschen, die wirklich noch in der Kirche beheimatet und emotional mit ihr verbunden sind, empfinden einen Angriff auf eine Kirche meist als Angriff auf einen heiligen Ort.“
Frage: Könnten auch die Missbrauchsskandale in beiden Kirchen eine Rolle spielen, weil sie Wut erzeugen und Menschen sich möglicherweise an den Kirchen rächen wollen?
Pickel: Ganz sicher. Die Kirchen haben auch durch die Missbrauchsfälle enorm an moralischer Autorität eingebüßt. Früher galten sie vielen als moralisch überlegen. Heute heißt es eher: "Die sind schlimmer als alle anderen." Damit fällt auch eine Hemmschwelle. Was früher ein sakraler Ort war, wurde durch den Missbrauch ein Stück weit delegitimiert. Das kann dazu führen, dass Einzelne Kirchengebäude als legitimes Ziel für Übergriffe betrachten.
Frage: Für Gläubige sind Taten, bei denen Kirchen durch Diebstahl oder Vandalismus geschändet werden, oft ein Schock. Sind Übergriffe dieser Art also mehr als bloße Sachbeschädigung?
Pickel: Ja. Menschen, die wirklich noch in der Kirche beheimatet und emotional mit ihr verbunden sind, empfinden einen Angriff auf eine Kirche meist als Angriff auf einen heiligen Ort. Dieser Effekt wird noch verstärkt, wenn jemand mit einem betroffenen Gotteshaus persönliche Erinnerungen verbindet – etwa, weil er dort geheiratet hat oder das Requiem für die verstorbene Oma dort stattgefunden hat. Entsprechende Taten werden von Betroffenen deshalb nicht nur als Sachbeschädigung, sondern als Angriff auf einen identitätsstiftenden Ort empfunden. Indirekt sagt der Täter den betroffenen Gläubigen: "Das, was Euch wichtig ist, respektiere ich nicht."
Frage: Sie haben schon die mangelhafte Datenbasis angesprochen. Gibt es dennoch Erkenntnisse über die Täter, die Kirchen angreifen?
Pickel: Wahrscheinlich handelt es sich um sehr unterschiedliche Tätergruppen: Einzeltäter, organisierte Diebesbanden, aber auch Menschen, die aus Wut auf die Kirche handeln ... Unsere Gesellschaft ist insgesamt emotionaler geworden – Wut und Hass spielen heute eine größere Rolle als früher. Das schlägt sich auch hier nieder.
Der Leipziger Religionssoziologe Gert Pickel rechnet nicht damit, dass die Zahl der Übergriffe auf Kirchen bald zurückgehen wird.
Frage: In der öffentlichen Debatte heißt es mitunter, dass vor allem die Zuwanderung aus überwiegend muslimischen Ländern seit 2015 zu dem Anstieg der Taten geführt habe. Was halten Sie von dieser These?
Pickel: Da wäre ich sehr vorsichtig. Wenn überhaupt deuten Polizeistatistiken höchstens vereinzelt in diese Richtung; aber die Dunkelziffer bei diesen Taten ist, wie gesagt, sehr hoch. Und selbst wenn es Fälle gibt, in denen Muslime die Täter sind, erklären sie nicht das Gesamtphänomen. Mindestens ebenso häufig sind es alkoholisierte Männergruppen oder psychisch kranke Täter, die für Übergriffe auf Kirchen verantwortlich sind. Und auch rechte Gruppen können als Täter in Frage kommen – zum Beispiel, weil sie sich über die klar ablehnende Haltung der Kirchen gegenüber der AfD ärgern und den Kirchen deshalb eins auswischen wollen. Insgesamt gilt: Hinter den Taten stehen fast immer emotionale Motive, nicht eine klar abgrenzbare Tätergruppe.
Frage: Wie sollten die Kirchen auf die Übergriffe reagieren? Einerseits sollen insbesondere katholische Gotteshäuser als Orte der Begegnung und des Gebets tagsüber möglichst geöffnet sein, andererseits erhöht das die Gefahr für Diebstähle und andere Attacken ...
Pickel: Das ist in der Tat ein Dilemma. Mehr Sicherheitstechnik wäre sicher sinnvoll, aber angesichts knapper Mittel kaum flächendeckend machbar. Ehrenamtliche als "Wächter" einzusetzen, halte ich für riskant – sie wären im Ernstfall überfordert. In jedem Fall hilfreich ist sicher eine Beratung durch die Polizei; sie kann Tipps geben, wie auch mit einfachen Mitteln mehr Sicherheit erreicht werden kann. Ganz verhindern lassen sich Übergriffe aber nicht. Kirchen völlig zu verschließen, wäre keine Lösung – das widerspräche ihrem Auftrag. Wenn man wieder mehr Menschen für die Kirche gewinnen will, geht das nur mit Offenheit.
Frage: Was erwarten Sie für die Zukunft? Wird die Zahl der Übergriffe auf Kirchen weiter ansteigen oder rechnen Sie mit einem baldigen Rückgang dieser Art von Taten?
Pickel: Das ist schwer vorherzusagen, weil diese Taten von vielen unterschiedlichen Faktoren abhängen. Klar ist aber: Die gesellschaftliche Emotionalisierung wird uns – wohl oder übel – erhalten bleiben. Politische Polarisierung, Kulturkampf-Rhetorik, Debatten über Islamismus oder Antisemitismus heizen die Stimmung weiter an – mit den entsprechenden Konsequenzen auch für die Kirchen. Das spricht leider eher dagegen, dass wir bald eine deutliche Abnahme erleben werden.