Gutachten sieht "systemisches Totalversagen" im Bistum Bozen-Brixen
Im Fall der nach massiver öffentlicher Kritik wieder zurückgenommenen Versetzung eines Südtiroler Priesters sind in Bozen die Ergebnisse einer externen Analyse vorgestellt worden. Der von der Diözese Bozen-Brixen mit der Untersuchung des Vorgangs beauftragte Rechtsanwalt Ulrich Wastl von der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) sprach am Freitag dabei von einem "systemischen Totalversagen" in entscheidenden Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen.
Der Anwalt erklärte: "Entscheidungen wurden ohne klare Zuständigkeiten, ohne ausreichende Dokumentation und ohne die Perspektive der Betroffenen getroffen." Es habe "keine einzelne Person versagt, sondern das System als Ganzes", so der Jurist. Hauptziel der Untersuchung sei nicht die Suche nach Schuldigen, sondern das Lernen aus Fehlern. "Systemisches Versagen kann zur Chance werden, wenn Verantwortung und Transparenz neu geordnet werden," sagte Wastl.
Konsequenzen im Bistum
Bischof Ivo Muser bekannte, die Diözese habe in dem Fall strukturelle Fehler gemacht. "Es war keine böse Absicht, aber es war ein Versagen. Wir wollen daraus lernen und wir übernehmen Verantwortung", sagte er.
Bei der eigens organisierten Fachtagung "Mut zur Umsetzung" kündigte Muser Konsequenzen an. Unter anderem solle eine organisatorische Neuordnung des Bereichs Aufarbeitung und Prävention in der Diözese stattfinden und Betroffene sollten besser eingebunden werden. Auch eine unabhängige Interventionsstelle werde eingerichtet. Er kündigte eine lückenlose Dokumentation aller relevanten Entscheidungen und Abläufe an und erklärte, dass so schnell wie möglich eine unabhängige Interventionsstelle als Kontroll- und Vertrauensinstanz eingerichtet werde.
Man wolle Betroffenen gerecht werden und alles tun, um künftige Betroffene zu schützen, fügte Muser hinzu. "Es geht auch darum, die Betroffenen viel mehr einzubeziehen und abzuwägen, wie wirken unsere Entscheidungen auf Menschen, die schweres Leid ertragen mussten", sagte der Bischof im Interview mit RAI Südtirol am Rande der Tagung.
Belasteter Priester wieder eingesetzt
Muser hatte im September einen Priester, der in einem Missbrauchsgutachten belastet worden war, auf eine andere Seelsorgestelle versetzt. Eine Fachgruppe hatte den geplanten Einsatz des Priesters laut Diözese vorab geprüft und die Entscheidung, den Geistlichen weiterhin in der Seelsorge zu belassen, unter Auflagen für vertretbar gehalten. Nach heftiger Kritik nahm Muser die Entscheidung zurück und sprach von einer "Fehlentscheidung". Der Geistliche war 2009 wegen Verjährung strafrechtlich freigesprochen worden. Zivilrechtlich erhielt die betroffene Familie später eine Entschädigung in sechsstelliger Höhe.
Als erste Diözese Italiens hatte die Diözese Bozen-Brixen zu Jahresbeginn eine den Zeitraum von 1964 bis 2023 umfassende unabhängige Untersuchung zu Missbrauchsfällen in ihrem Bereich vorgelegt, die auch Empfehlungen zur Stärkung der Belange der Betroffenen, zum Umgang mit Beschuldigten und Tätern und präventiven Maßnahmen enthält. (KNA)
